Befriedigt und belustigt von der eigenen Klugheit wie von der Torheit der anderen, verließ Nikolaus Tarabas den Zug am Morgen nach einem ungestörten, gesunden Schlaf. Kaum zwei Werst trennten ihn noch vom väterlichen Hause. Freilich erkannten und begrüßten ihn der Stationschef, der Portier, die Gepäckträger. Auf ihre herzlichen Fragen erwiderte er mit amtlicher Geschäftigkeit, er sei in allerwichtigstem und allerhöchstem Auftrag aus Amerika zurückberufen worden, immer den gleichen Satz wiederholend, ohne das freundliche Lächeln zu verlieren und den Glanz seiner blitzblauen Kinderaugen. Als ihn der und jener fragte, ob er zu Hause angekündigt worden sei, legte Tarabas einen Finger an den Mund. Also gebot er Schweigen und weckte Respekt. Und als er sich ohne Gepäck, so, wie er New York verlassen hatte, vom Bahnhof entfernte und den schmalen Landweg einschlug, der zum Hause des Geschlechtes Tarabas führte, legte einer der Beamten nach dem anderen den Finger an den Mund, genauso, wie es Tarabas getan hatte, und alle glaubten sie zu wissen, daß Tarabas, ihnen seit seiner Kindheit vertraut, ein großes Staatsgeheimnis mit sich trage.
Um die Stunde, in der man, wie er wußte, zu Hause Mittag aß, kam Nikolaus an. Er ging, um die »Überraschung« vollkommen zu machen, nicht den breiten Weg hinan, der zu seinem Hause führte und den die schlanken, zarten und so lang entbehrten Birken zu beiden Seiten begleiteten, sondern über den feuchten, schmalen Pfad zwischen den breiten Sümpfen, den die vereinzelten Weiden, zuverlässige Wegweiser, bezeichneten und der im halben Bogen hinter das Haus führte und unter dem Fenster Nikolaus Tarabas' endete. Im Dachgiebel lag sein Zimmer. Wildes Weinlaub, alt schon, feste und biegsame Ruten, von hartem Draht durchflochten, wucherten an der Wand, bis zu den grauen Schindeln des Daches. Statt der Stiege die Weinlaubruten zu benutzen war für Tarabas eine Kleinigkeit. Das Fenster – mochte es auch geschlossen sein – mit einem seit der Kindheit geübten Griff zu lockern und lautlos aufzustoßen schien ihm ebensoleicht. Er zog die Schuhe aus und steckte sie in die Rocktaschen, wie er in der Kindheit getan hatte. Und, gewandt, ohne Laut, wie er es als Knabe gewohnt gewesen, klomm er die Wand empor; zufällig war das Fenster offen; einen Augenblick später stand er in seinem Zimmer. Er schlich zur Tür und schob den Riegel vor. Der Schlüssel steckte noch im Schrank. Man mußte sich sachte mit der Schulter gegen den Schrank lehnen, wollte man verhüten, daß er knarre. Jetzt war er offen. Säuberlich über Bügeln hing die Uniform. Tarabas legte den Zivilanzug ab. Er zog die Uniform an. Den Säbel befreite er mit geschwinden Händen von der papierenen Hülle. Der Gürtel knarrte. Schon war Tarabas gerüstet. Er ging auf Zehen die Treppe hinunter, klopfte an die Tür des Speisezimmers und trat ein.
Vater und Mutter, die Schwester und die Cousine Maria saßen auf ihren gewohnten Plätzen. Man aß Kascha.
Zuerst begrüßte er den langentbehrten heißen Duft dieser Speise, einen Duft aus gerösteten Zwiebeln und gleichzeitig eine Wolke gewordene selige Erinnerung an Feld und Getreide. Zum erstenmal, seitdem er das Schiff verlassen hatte, verspürte er wieder Hunger. Hinter dem leisen Dunst, der aus der vollen Schüssel in der Mitte des Tisches aufstieg, verschwammen die Gesichter der Familie. Sekunden später erst bemerkte Tarabas ihr Erstaunen, vernahm er erst das Klirren der hingelegten Bestecke, das Geräusch der rückenden Stühle. Als erster stand der alte Tarabas auf. Er breitete die Arme aus. Nikolaus eilte ihm entgegen und konnte nicht umhin, zwei, drei Körner der langentbehrten Speise im Schnurrbart des Vaters zu bemerken. Dieser Anblick verminderte beträchtlich die Zärtlichkeit des Jungen. Nachdem sie sich geräuschvoll geküßt hatten, begrüßte Nikolaus die Mutter, die sich eben schluchzend erhob, die Schwester, die ihren Platz verließ und rings um den Tisch ging, den Bruder zu erreichen, und die Cousine Maria, die sich ihm, der Schwester folgend, langsamer näherte. Nikolaus umarmte sie. »Ich hätte dich niemals erkannt«, sagte er zu Maria. Durch das feste Tuch seiner Uniform spürte er ihre warme Brust. In diesem Augenblick begehrte er die Cousine Maria so heftig und ungeduldig, daß er den Hunger vergaß. Die Cousine huschte nur mit gespitzten, kühlen Lippen über seine Wange. Der alte Tarabas rückte einen Stuhl herbei und hieß den Sohn, sich an seine Rechte zu setzen. Nikolaus setzte sich. Er lechzte wieder nach der Kascha. Er sah gleichzeitig Maria an und schämte sich seines Hungers. »Hast du gegessen?«, fragte die Mutter. »Nein!«, sagte Nikolaus; fast rief er es.
Man schob ihm Teller und Löffel hin. Während er aß und erzählte, wie er gekommen, ungesehn in sein Zimmer geklettert war und die Uniform angezogen hatte, beobachtete er die Cousine. Sie war kräftig, ein beinahe gedrungenes Mädchen. Ihre zwei braunen Zöpfe hingen züchtig und zuchtlos zugleich über ihre Schultern und begegneten einander, unter dem Tischtuch, wahrscheinlich im Schoß. Manchmal nahm Maria die Hände vom Tisch und spielte mit den Enden ihrer Zöpfe. In ihrem jungen, bäuerlichen, gleichgültigen und ausdruckslosen Angesicht fielen die sanften, schwarzen, seidigen, langen und aufwärtsgebogenen Wimpern auf, zarte Vorhänge vor den halbgeschlossenen, grauen Augen. Auf ihrer Brust lag ein kräftiges, silbernes Kreuz. Sünde, dachte Tarabas: das Kreuz erregte ihn. Ein heiliger Wächter war es über der lockenden Brust Marias.
Hübsch, breitschultrig, schmalhüftig sah Tarabas in der Uniform aus. Man bat ihn, von Amerika zu erzählen. Man wartete: er schwieg. Man begann, vom Krieg zu sprechen. Der alte Tarabas sagte, der Krieg würde drei Wochen dauern. Nicht alle Soldaten fielen, und von den Offizieren stürben bestimmt nur wenige. Nun fing die Mutter zu weinen an. Darauf achtete der alte Tarabas keineswegs. Als gehörte es zu den selbstverständlichen Eigenschaften einer Mutter, Tränen zu vergießen, dieweil die anderen essen und sprechen, hielt er weitläufige Vorträge über die Schwäche der Feinde und die Stärke der Russen; und nicht für einen Augenblick wurde ihm klar, daß der finstere Tod schon seine hageren Hände über dem ganzen Lande kreuzte und auch über Nikolaus, seinem Sohn. Taub und stumpf war der alte Tarabas. Die Mutter weinte.
Der Staketenzaun aus silbernen Birkenknüppeln umringte noch das väterliche Gehöft; und es war gerade die Zeit, wo die Knechte die Apfelbäume schüttelten, die Mägde hoch hinauf in die Zweige krochen, um die Früchte zu pflücken und auch, um von den Knechten besser gesehen zu werden. Sie hoben die leuchtend roten Röcke und zeigten die weißen, starken Waden und die Schenkel. Die späten Schwalben flogen in großen, dreieckigen Schwärmen nach dem Süden. Die Lerchen schmetterten immer noch, unsichtbar im Blau. Offen standen die Fenster. Und man hörte das scharfe, schwirrende Singen der Sensen – man schnitt schon die letzten Halme von den Feldern – in größter Hast, wie der Vater erzählte. Denn die Bauern mußten einrücken, morgen, übermorgen oder in einer Woche.
All dies gelangte zum heimgekehrten Tarabas wie aus einer unendlichen Ferne. Er wunderte sich, daß Haus, Hof, Land, Vater und Mutter ihm näher gewesen waren im weiten, steinernen New York als hier, und obwohl er doch hierhergekommen war, sie zu umarmen und seinem Herzen nahe zu fühlen. Tarabas war enttäuscht. Daß sie ihn als heimgekehrten verlorenen Sohn begrüßen würden, als Retter und als Helden: so hatte er es sich ausgemalt. Man behandelte ihn allzu gleichgültig. Die Mutter weinte: aber so sei ihre Natur, meinte Tarabas. In New York hatte er eine andere Mutter gesehn, eine zärtlichere, verzweifelte Mutter, wie sie sein eitles Kinderherz brauchte. Hatte man sich während seiner langen Abwesenheit daran gewöhnt, das Haus Tarabas ohne den einzigen Sohn zu sehn? Eine Überraschung hatte er ihnen bereiten wollen, durchs Fenster war er gestiegen, immer noch harmlos wie als Knabe, die Uniform hatte er angezogen und war ins Zimmer getreten, so, als wäre er gar niemals in Amerika gewesen. Ihnen aber schien es ganz selbstverständlich, daß er so plötzlich daherkam!
Er aß, gekränkt, stumm und mit gutem Appetit. Er führte wortlos einen Löffel nach dem andern zum Mund, es war ihm, als äße er nicht selbst, als fütterte ihn ein anderer. Nun war er gesättigt. Mit einem Blick auf die Cousine Maria sagte er: »Ich muß also morgen früh abreisen. Ich muß spätestens übermorgen beim Regiment sein.« Bat man ihn etwa zu bleiben? – Keineswegs! – »Recht, recht!«, sagte der Vater. Ein wenig heftiger schluchzte die Mutter auf. Unbewegt blieb die Schwester. Maria senkte die Augen. Das große Kreuz an ihrer Brust glänzte. Man erhob sich schließlich vom Tisch.
Am Nachmittag stattete Tarabas ein paar Besuche ab, beim Pfarrer, bei Gutsnachbarn. Er ließ einspannen. Und im Glanz seiner Uniform, eine großartige Erscheinung aus Blau und Silber, fuhr er, ein wenig fremd, durch