Vom Schein zum Sein. Veronika Wlasaty. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Veronika Wlasaty
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783742786524
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Mentalität abweichende Lebensweisen als rückständig, unterentwickelt, unzivilisiert oder normabweichend und die sich dieser Lebensweise Bedienenden als entwicklungsbedürftig oder genauer gesagt, unserer Entwicklungshilfe bedürfend. Wir wähnen uns als das Volk, die Nation, die Staatengemeinschaft, die, über jeden Zweifel erhaben, anderen, nach unserem Verständnis Unterentwickelten, den Weg weisen muss. Unseren Weg, den sie ohne unsere „Hilfe“ vermutlich gar nicht suchen würden. Da wir die Parameter, die unseren technischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand abbilden, als absolute Größen setzen, kommt uns nicht in den Sinn, dass es auch anders herum sein könnte. Nämlich, dass wir diejenigen sein könnten, die „verkehrt herum“ leben. Diejenigen, die Geld, technischen Fortschritt und Wissen mit Höherentwicklung und Wohlstand verwechseln. Diejenigen, die die Schönheit des Weges den schnellen Zielen opfern und sich ihres Tempos brüsten, ohne zu wissen, wo es sie hinführt.

      Wir lassen keine anderen Maßstäbe gelten als die unseren und erklären diese zu unumstößlichen Eckpfeilern einer funktionierenden Gesellschaft. Unsere an Wachstum, Wettbewerb und Fortschritt orientierten Werte sind die einzig wahren, die allerorts als verbindlich zu gelten haben.

      Was aber, wenn wir irren? Wenn unsere „bessere Welt“ nur besser für uns und schlechter für alle anderen wäre. Und auch für uns bestenfalls nur kurzfristig besser und langfristig schlechter für alle. Und wenn in Reichtum leben nicht Anhäufung von Geld und Gütern wäre, sondern Leben im Einklang mit der Natur unter Würdigung, nicht Ausbeutung ihrer Schätze.

      Im Bewusstsein, dass das Geborenwerden in diese Welt jedem von uns die selben Erdenbürgerrechte gleichsam als Geburtsrecht zuteil werden lässt, ist eine gleichberechtigte Teilhabe nichts, worüber uns zu entscheiden zustünde, nichts, was wir anderen gewähren oder versagen könnten. Und doch maßen wir uns an, genau darüber zu entscheiden und bemühen dabei oft noch eine höhere Instanz, um unseren Willen zu legitimieren. Gott steh uns bei, möchte man beten, aber Gott steht nur denen bei, die sich auch beistehen lassen und das Zepter, das sie an sich gerissen haben und umklammert halten, endlich loslassen.

      Im Fluss

      „Don´t push the river. It flows by itself.”

       (Fritz Perls)

      Eine Metapher für das menschliche Leben, die mir sehr treffend erscheint, ist die vom langen (ruhigen) Fluss. Von der Quelle bis zur Mündung ins Meer gewinnt ein Fluss an Breite, Tiefe und Fülle. Vom Bächlein bis zum Strom verfügt er in jedem Abschnitt über die Qualität (das Potential), um das Leben in ihm bestmöglich zu versorgen und nimmt ohne Zutun den für sich bestmöglichen Lauf.

      Aber dann… kommt der Mensch, verbaut die Ufer und nimmt Einfluss: Er leitet seine Abwässer hinein und reguliert den Lauf. Er begradigt, errichtet Dämme und Schleusen und passt ihn in das künstlich geschaffene Landschaftsbild (System) ein. Die natürliche Qualität des Wassers, das Potential, verliert an Güte und büßt seinen ursprünglichen Zustand ein. So wird im Namen des Guten weltweit Leid erzeugt: durch Reglementierung, Umerziehung, Anpassung an systemische Gegebenheiten und Erfordernisse, die Natur völlig außer Acht lassend.

      Ambitioniert und angetrieben von „Sachzwängen“ (wie wir es nennen) kontrollieren und manipulieren wir den Verlauf der Dinge, um nichts dem Zufall und der Beliebigkeit zu überlassen. Ein Misstrauensantrag an unsere Natur und zugleich an eine höhere Intelligenz - an Gott. Auf diese Weise brechen wir nicht nur unsere eigene „Wasserqualität“ (und die anderer), wir verlieren unseren natürlichen Lauf und damit uns selbst.

      Foto: V. Wlasaty

      Wir brauchen eine Wende

       " Wenn einer allein träumt , ist es nur ein Traum .

       Wenn viele gemeinsam träumen , ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit."

       (Hélder Camara)

      Ich habe meinen Job als Lehrerin gekündigt. Den Begriff „Job“ wähle ich hier, nicht um diese Tätigkeit, die mir lange Jahre so viel Freude, wertvolle Erfahrungen und berührende Augenblicke beschert hat, abzuwerten, sondern weil ich das Wort Beruf, das für mich etwas mit Berufung gemein haben sollte, dafür nicht mehr anwenden kann. Ich fühle mich nicht mehr dazu berufen, Menschen in ein Vergleichbarkeitsschema, ja Gleichheitskonzept zu pressen, sie ohne Berücksichtigung ihrer Individualität und Identität vergleichbar zu machen, sie zu „standardisieren“, ungeachtet ihrer Begabungen und Interessen, Bedürfnisse und Gefühle. Nicht, dass ich mich jemals zu solchem berufen gefühlt hätte. Natürlich, rückblickend ist vieles von dem, was lange Zeit hinweg als „solide Pädagogik“ gehandelt und zur Nachahmung empfohlen wurde, aus heutiger Sicht für mich nur mehr in Anbetracht wirtschaftlicher „Erfordernisse“ und vor dem Hintergrund einer anderen Zeit nachvollziehbar.

      Doch woran sonst wäre eine persönliche Entwicklung besser erkennbar, als an gut gemeinten Versuchen und erkannten Irrtümern? Die versöhnliche Rückschau auf Gewesenes erleichtert mir das gute Weitergehen. Denn die Beschaffenheit des Weges ist nun eine andere geworden. Die überdauernden menschlichen Werte, die guten Absichten dürfen, ja müssen im Gepäck bleiben. Die Art und Weise, in der sie sich ausdrücken und Form annehmen, muss sich verändern. Wir brauchen eine mutige Wende, um das „ewige Murmeltier“ endlich zu erlösen. (Sollte das nun schon als Filmklassiker geltende „Und ewig grüßt das Murmeltier“ noch irgendjemandem unbekannt sein, bitte als Suchbegriff im Internet eingeben oder eine der zahlreichen TV-Wiederholungen ansehen!)

      Wir alle haben pflichtgemäß sämtliche Instanzen – oder zumindest die Schule – durchlaufen, die uns die Statuten des Vereins namens Gesellschaft, die auf klaglosem Funktionieren gründen, beigebracht haben. Wir mussten die Teilnahmeberechtigung zum festgesetzten Preis erwerben, die Kosten standen nicht zur Wahl. Wir haben dabei, ohne es zu bemerken, den Kontakt zu und das Gespür für uns selbst, unser Selbst, verloren. Wie sonst könnte man erklären, dass wir uns, trotz wachsender Unzufriedenheit und Burnout-Rate, immer noch bemühen, unsere Tretmühlen aufrecht zu erhalten, indem wir unser „Bestes“ geben (als ob es das wirklich wäre!) und andere, mittels Mahnung zur Pflichterfüllung, dazu anhalten, es uns gleich zu tun. Wer kann wissen, was unser Bestes ist, wissen wir es doch oft nicht einmal selbst so richtig. Zu früh wird uns die Möglichkeit genommen, genau das herauszufinden, indem etwas Anderes, das als unser Bestes proklamiert wird, ein fremdbestimmtes Soll sozusagen, an seine Stelle gesetzt wird. Von Schuleintritt an werden wir dazu genötigt, unsere Interessen und Fähigkeiten auf später zu verschieben, ohne dessen gewahr zu sein, dass Vieles durch den erzwungenen Aufschub gar nicht erst wieder zum Vorschein kommt oder hinter dem zurück bleibt, was es hätte werden können. Die Verheißung des späteren Paradieses, wenn wir uns bemühen, ein Platz an der Sonne der Gesellschaft mit guter Arbeit, Geld, Konsum, Ansehen, Glück und Erfolg hat sich für viele als leeres Versprechen entpuppt. Denn in der Natur gibt es keinen zulässigen Fremdeingriff. Jede Unterdrückung von natürlichem Wachstum, jeder Eingriff, der sich nicht mit Naturgegebenem vereinbaren lässt, richtet sich früher oder später gegen uns. Die Natur rächt sich, heißt es dann, wenn beispielsweise Muren Straßen und Häuser verschütten, oder Überschwemmungen bebautes Land unter Wasser setzen, und schreiben ihr damit menschliche Motive zu. Denn Rache kennt nur der Mensch, die Natur folgt lediglich ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, ihrer eigenen Natur eben. Umweltkatastrophen und andere „natürliche" Heimsuchungen sind nichts anderes als die logische Folge unseres eigenen Fehlverhaltens. So auch all die Missstände, die wir aktuell in Wirtschaft, Politik, Bankenwesen, Bildungssystem, kurz, in allen gesellschaftlich relevanten Systemen verorten. Wut und Empörung sind allerorts spürbar über die nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit anhaltenden Zustände, die das Krisenpaket schnüren, und immer dann, wenn die Vorstellung nicht mehr ausreicht, sich Schlimmeres auszumalen, kommt ein noch höherer Krisengipfel in Sicht. Neugeprägte