Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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Noch einmal überfliegt er seine Hochrechnung: „Ja, Wang war jetzt drei Semester hier, und sie kamen so etwa jedes halbe Jahr einmal bei ihm vorbei, wobei sie das eine Mal ganz schön einen draufgemacht haben. Zum Glück war es in den Semesterferien, da war kaum einer im Haus, ansonsten hätte es wahrscheinlich Beschwerden gehagelt.“

      „Und sonst, wer kam sonst noch zu ihm zu Besuch?“

      „Drei, vier andere Chinesen, gelegentlich aber auch der eine oder andere Studienkollege, die ich aber nur habe rein- und rausgehen sehen.“

      „Waren darunter auch Frauen?“

      Einige Sekunden des Nachdenkens verstreichen. „Nein, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.“

      „Fällt Ihnen sonst noch etwas zur Person von Herrn Wang ein?“

      „Na ja, ... ich persönlich kam gut mit ihm aus, und die anderen hier im Haus denke ich auch. Bis auf das eine Mal, wo es wirklich hoch herging, war er eher ein ruhiger Typ, der wusste, was er wollte. Er war so eine richtige Arbeitsbiene, genauso wie man sich Chinesen halt vorstellt. Der hat bis frühmorgens die Nacht durch studiert, weil es da ruhiger ist, meinte er. Dafür hat er dann tagsüber gepennt, wenn er keine Vorlesungen hatte. Ansonsten... Haben Sie sein Zimmer schon gesehen?“ Ein Blick auf Strelow bestätigt, dass dies der Fall ist. „Dann haben Sie ja gesehen: er lebte recht bescheiden, leistete sich keine Extravaganzen, was er, so vermute ich, angesichts seiner finanziellen Lage auch gar nicht konnte.“

      Strelow lässt dem jungen Mann, den das Namensschild an der Eingangstür als Peter Dörfler ausweist, noch eine Weile Zeit, um seine Gedanken zu durchforsten und so eventuell noch auf etwas zu stoßen, das von Relevanz sein könnte. „Sagen Sie mir“, beendet er schließlich die allem Anschein nach ergebnislosen Bemühungen, „wissen Sie, ob Herr Wang eine Waffe besaß? Wir haben nämlich eine bei ihm gefunden. Haben Sie irgendwann einmal eine solche bei ihm gesehen, oder hat er sie Ihnen gegenüber erwähnt?"

      „Nein, um Gottes Willen, Wang war gar nicht der Typ für so etwas … hätte ich zumindest gedacht. Ich habe ihn eher für einen Pazifisten gehalten, aber Sie sehen, so kann man sich täuschen.“

      „Der Schein trügt oft, glauben Sie mir“, bemüht sich Strelow den mit seiner Urteilsfähigkeit Hadernden wieder ein wenig aufzubauen, „wenn Sie wüssten, wie oft ich mich in Menschen getäuscht habe, und trotz meiner Erfahrung bis heute nicht dagegen gefeit bin. Den klassischen Gauner- und Verbrechertypen gibt es nicht, dann wäre die Sache ja zu einfach und wir bald arbeitslos.“ Das leicht um die Mundwinkel spielende Lächeln lockert die Situation auf, nimmt ihr ein wenig von der Brisanz, die hinter diesen Worten versteckt liegt, ohne dass dadurch indes die Irritation in den Augen des Studenten abgebaut werden könnte.

      „Soll das heißen, dass Wang in irgendwelche krummen Machenschaften verstrickt gewesen ist?“ Dörflers Stimme vibriert ungläubig, wobei seine Augen zwischen Strelow und Claude hin- und herfliegen.

      „Auszuschließen ist es nicht. Was uns vor allem zu schaffen macht, ist der Umstand, dass die Seriennummer entfernt wurde, was doch sehr profimäßig anmutet. Zudem besaß Herr Wang keinen Waffenschein … Umstände, die nicht gerade für ihn sprechen. Und last but not least: Wer bringt schon einen harmlosen Studenten um.“

      Claude hat Dörfler die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen, so dass er beinahe Mitleid mit dem jungen Mann verspürt, der ob des Gehörten erst seine Gedanken neu ordnen muss, wozu ihm der Kriminalbeamte allerdings kaum Gelegenheit lässt: „Dann wäre da noch etwas, worauf wir bislang noch keine Antwort gefunden haben. Wie kommt das Bild von Herrn Duchamp", Strelow deutet auf Claude, „in den Besitz von Herrn Wang? Wie uns Herr Duchamp versichert hat, ist er Herrn Wang nie begegnet, geschweige denn, dass er ihm ein Foto von sich gegeben hätte.“

      „Ach, Sie sind gar nicht Kriminalbeamter?“, resümiert Dörfler - Claude oberflächlich musternd - den letzten Hinweis.

      „Nein“, ergreift erstmalig Claude das Wort, wobei er, einer spontanen Idee folgend, seine Brieftasche aus seiner Weste zieht, der er eine Aufnahme seines ermordeten Bruders entnimmt und diese dem Studenten entgegen hält: „Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?“

      „Darf ich“, bittet der Gefragte darum, das Bild zwecks näherer Betrachtung in die Hand nehmen zu dürfen. „Nein, ... ist das Ihr Bruder? Er sieht Ihnen irgendwie ähnlich.“

      Claude nimmt das Bild wieder an sich: „Ja, das war mein Bruder.“

      Die Vergangenheitsform und die nicht zu überhörende Trauer in der Stimme seines Gegenübers entgehen Dörfler nicht: „Ist er tot?“

      „Ja“, gibt sich Claude kurz angebunden. Zu weiteren Ausführungen sieht er sich indes nicht veranlasst. Dass seine vage Idee, Philipp könnte irgendwann einmal zusammen hier mit Wang aufgetaucht sein, zumindest von Seiten des jungen Mannes keine Bestätigung findet, erleichtert ihn einerseits, andererseits müssen die beiden nach dem derzeitigen Stand der Untersuchungen in irgendeiner Beziehung zueinander gestanden haben - und die Frage, wie Wang an sein Bild gekommen ist, bleibt damit gleichfalls weiterhin in Rätsel.

      Da das Informationspotential des jungen Studenten offensichtlich ausgeschöpft ist, erhebt sich Strelow mit einer letzten Frage: „Wissen Sie, mit wem Herr Wang im Hause sonst noch befreundet war, wer uns in dieser Angelegenheit eventuell weiterhelfen könnte?“

      „Mit Sabine hat er sich ganz gut verstanden. Sie hat ihm gelegentlich beim Studium geholfen, sie studiert nämlich ebenfalls Germanistik, ist allerdings schon ein paar Semester weiter. Und bei Rolf hat er ab und zu einmal um Rat in BWL nachgefragt.“

      „Wo finde ich die beiden denn?“

      „Sabine wohnt um die Ecke im Flur hinten links, Rolf ein Stockwerk höher, Zimmer 304.“

      „Können Sie mir noch ihre Familiennamen sagen?“

      „Sabine Lochner und Rolf Hirsemann.“

      „Vielen Dank, Herr Dörfler, Sie haben mir sehr geholfen, und entschuldigen Sie nochmals, dass wir Sie gestört haben“, verabschiedet sich Strelow auch im Namen von Claude, an den er sich im Flur wendet: „Mal schauen, ob die beiden da sind.“

      Das Klopfen an Sabine Lochners Zimmertür bleibt unbeantwortet, so dass die beiden ihr Glück ein Stockwerk höher versuchen, mit demselben negativen Resultat, was Claude ein bisschen missmutig stimmt, da er die gerade ganz gut angelaufenen Recherchen bereits wieder ins Stocken geraten sieht. „Noch sind Semesterferien“, kommentiert Strelow ihre Erfolgslosigkeit. „Ich denke, wir sollten seinen Landsmann, Herrn Zhang, ausfindig zu machen versuchen, meinen Sie nicht auch“, bemüht er sich, Claude das Gefühl zu geben, nicht nur am Gängelband mitgeschleift zu werden. „Versuchen wir unser Glück bei der Universitätsverwaltung. So viele Zhangs wird es in Erlangen ja wohl nicht geben.“

      Unmittelbar im Stadtzentrum in einer kleinen Seitenstraße gelegen, untergebracht in einem alten, hübsch restaurierten Gebäude, empfängt sie der Eingangsbereich der Universitätsverwaltung mit jenem wuseligen Gewirr junger Menschen, das Claude noch aus seinen eigenen Hochschultagen kennt, wenn es darum geht, wenige Tage vor Semesterbeginn die letzten Studienformalitäten zu erledigen. Große und kleine, hellhäutige und dunkelhäutige, gelassen heitere und ein wenig finster, verärgert dreinblickende Personen vermischen sich an diesem Ort, alle noch recht jung, voller Erwartungen an die Zukunft, und alle friedlich, ein buntes Völkergemisch darstellend, quasi ein Archetyp dafür, wie es auf der Welt auch zugehen könnte, wie Menschen, ganz gleich welcher Rasse oder Nation sie angehören, in Frieden miteinander leben können und wollen, angespornt von dem Gedanken, der Idee einer besseren Welt, in der das sich ergänzende Miteinander, nicht das sich gegenseitig ausstechende Konkurrenzdenken das Leitbild darstellt. ‚Schön wäre es’, sinniert Claude, genau wissend, dass am Ende, wenn diese jungen Menschen ihr vielfach mit großem Enthusiasmus angetretenes Studium werden abgeschlossen haben, sie die zu wenig Hoffnung und Optimismus Anlass gebende Realität eingeholt haben und spätestens dann mit