Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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und leichtes Achselzucken geben Claudes Worten Nachdruck. „Ich weiß nicht. Ich hoffe. Lässt sich im Voraus schwer sagen, das hängt von vielen Faktoren ab, Und die ändern sich in unserer schnelllebigen Welt oftmals verdammt rasch.“

      Hauptkommissar Krüger hat sich derweilen neben dem Toten niedergekauert, und während er ihn der Länge nach in Augenschein nimmt, richtet er sich an dessen Bruder: „Um noch einmal darauf zurückzukommen: Sie haben also einen Schlüssel zum Apartment Ihres Bruders. Ist Ihnen beim Betreten der Wohnung irgendetwas aufgefallen, war die Tür offen oder so?“

      „Sie war zu, aber nicht abgeschlossen, nur zugezogen.“

      „Roland.“ Noch immer in Hockstellung, wartet Krüger auf den von ihm angerufenen Kriminalassistenten, der Augenblicke später seinen Kopf zur Tür hereinstreckt. „Ja, Chef.“

      „Habt ihr schon etwas herausgefunden? Was ist mit der Wohnungstür? Ist sie gewaltsam geöffnet worden oder nicht? Oder habt ihr sonst schon irgendwelche Spuren?“

      „Nein, zumindest nichts Brauchbares. Das Schloss ist unbeschädigt, keine Spuren von Gewaltanwendung. Entweder der oder die Täter hatten einen Schlüssel oder...“

      „Oder der Ermordete hat selbst aufgemacht. Das wiederum hieße, er hat ihn oder sie gekannt, zumindest aber keinen Verdacht gehabt.“ Krügers und Claudes Blicke treffen sich. „Danke. Schaut, dass ihr noch etwas Brauchbares findet.“ Sich erhebend wendet er sich an Claude: „Seit wann hat Ihr Bruder diese Wohnung?“

      „Seit einem halben Jahr, davor hat er fast vier Jahre lang in Mailand gelebt. Warum er hierher nach Frankfurt gezogen ist, weiß ich nicht. Ich habe mich damals gewundert, als er mir schrieb, er werde umziehen, schließlich ist Mailand - unter dem Gesichtspunkt der Mode und Modefotografie betrachtet - um Klassen besser als Frankfurt. Und finanziell hat es in Italien auch gestimmt, zumindest hatte ich, als ich ihn vor zwei Jahren dort besucht habe, diesen Eindruck. Er war aber auch einer der besten in seinem Metier.“ Traurig mustert Claude seinen getöteten Bruder, der soeben von allen Seiten abgelichtet wird, auf so unfreiwillige Art zum Fotoobjekt geworden ist. Mit jedem Blitz, der gezündet wird, so empfindet er es in diesem Moment, werde sein Bruder aufs Neue niedergestreckt, gar zu sehr ähneln in seiner Vorstellung die für Sekundenbruchteile aufleuchtenden Blitzlichter dem Mündungsfeuer jener Waffe, die er imaginär auf seinen Bruder gerichtet sieht. Mit der einem Fotografen eigenen Sehweise resümiert er lakonisch die völlige ästhetische Aussagelosigkeit der Szenerie um ihn herum. Die Routine und Nüchternheit, mit der der Polizeifotograf seiner Arbeit nachgeht, lässt jedoch keinen anderen Schluss zu: auch er ist Profi. Allerdings haben dessen, seines Bruders und seine eigene Seh- und Arbeitsweisen nichts miteinander gemeinsam, außer dem Arbeitsgerät und dem Ziel ihrer Tätigkeit: Dokumentarisch wiederzugeben, was sie durch ihre Objektive erfassen beziehungsweise erfassten, ein jeder auf seine Art und Weise.

      „Dass Ihr Bruder von hinten erschossen wurde, spricht ebenfalls dafür, dass er seinen Mörder kannte“, gibt Mihailovic zu verstehen. Claudes fragender Gesichtsausdruck lässt ihn weiter ausführen: „Einem Fremden dreht man für gewöhnlich nicht den Rücken zu, es sei denn man läuft davon, was er aber ganz offensichtlich nicht getan hat. Ich nehme eher an, er wollte irgendetwas holen ... oder vielleicht etwas zum Trinken anbieten.“ Mit einer Kopfbewegung weist der Kommissar auf die in verlängerter Liegerichtung des Toten auf einem Servierwagen fein säuberlich aufgereihten Flaschen und Gläser.

      „Wissen Sie, was mich stört, was ich irgendwie komisch ... ja, komisch finde?“ Krüger wartet gar nicht erst auf eine Antwort von Seiten Claudes. „Die halb heruntergelassenen Rouleaus. Warum sind in allen Räumen, außer im Labor, die Rouleaus nur halb heruntergelassen, warum nicht ganz, warum überhaupt?“ Mit einem Gedankensprung und einem Körperruck zur Seite orientiert er sich wieder in Richtung Toter: „Doktor, können Sie schon sagen, wann es passiert ist? Ungefähr zumindest.“

      Doktor Jacklos stämmige, von einer Halbglatze bekrönte, neben der Leiche kniende Gestalt wird durch die unvermittelt von ihm geforderte Auskunft in eine abrupte Hundertachtzig-Grad-Drehung versetzt, was Claude befürchten lässt, diese werde auf seinen Bruder stürzen.

      „Vermutlich zwischen siebzehn und zwanzig Uhr gestern Abend. Eher siebzehn als zwanzig Uhr.“

      „Das ist es, was ich meine“, wendet sich der Hauptkommissar wieder dem Bruder des Ermordeten zu, „zu dieser Zeit ist es doch noch hell draußen. Und nachts lässt man die Rouleaus für gewöhnlich ganz herunter. Oder?“ Da der Befragte stumm bleibt, ergänzt Krüger: „Sie haben doch nichts verändert, zum Beispiel um besser sehen zu können oder so?“

      „Nein, nein. Warum sollte ich, notfalls hätte ich das Licht angemacht.“

      „Sehr gut. War ja auch nur eine Frage.“

      Mihailovic, der sich mit einem der Männer von der Spurensicherung unterhalten hat, tritt wieder zu den beiden heran. „Nur ein Schuss. Unsere Leute haben keine weiteren Einschüsse gefunden. Wahrscheinlich eine großkalibrige Pistole, wobei es sich bei dem, respektive den Tätern um Profis zu handeln scheint, denn die Kollegen haben keine Patronenhülse gefunden. Und da die Nachbarn nach eigenen Aussagen keinen Schuss gehört haben, gehe ich davon aus, dass ein Schalldämpfer verwendet wurde."

      „Gut. Genaueres erfahren wir ja dann nach der Autopsie.“ Krüger scheint über die ersten, wenn auch dürftigen und noch unbestätigten Erkenntnisse zufrieden. Zu Claude gewandt: „Sagen Sie, Herr Duchamp, hatte Ihr Bruder Feinde. Ich weiß, Sie sagten mir, dass Ihr Bruder Sie letzte Woche angerufen habe und Ihnen sagte, er stecke da in etwas drin. Sie sagten auch, Sie wüssten nicht, was er damit gemeint haben könnte. Könnte ja aber auch sein, dass dies hier nichts damit zu tun hat. Daher nochmals meine Frage: Hatte Ihr Bruder Feinde? Zum Beispiel von früher?“

      „Nicht, dass ich wüsste. Aufgrund seines stets um Ausgleich bedachten Charakters halte ich dies eigentlich für ausgeschlossen. Aber bitte, wir haben uns in den letzten Jahren selten gesehen, so dass ich dies nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann. Andererseits hätte mir Philipp gesagt, wenn er in derartigen Schwierigkeiten gesteckt hätte. Deswegen hat er mich ja auch ganz offensichtlich am vergangenen Freitag angerufen.“

      „Hm. Ich frage Sie dies, da es sich offensichtlich nicht um einen Raubüberfall handelt. Wie es scheint, ist noch alles an seinem Ort. Allein die Kameraausrüstung Ihres Bruders wäre Grund genug für einen Einbruch. Und das Schloss an der Eingangstür ist auch unversehrt."

      Claude löst den Blick von dem leblosen Körper seines Bruders. „Sie sagten doch aber selbst, dass mein Bruder den Täter offensichtlich persönlich gekannt haben muss. Man öffnet doch aber nicht jemandem, vor dem man sich fürchtet oder von dem man sich bedroht fühlt."

      „Genau. Es muss sich also um jemanden handeln, von dem Ihr Bruder glaubte nichts befürchten zu müssen, den er kannte, oder um genauer zu sein, von dem er glaubte, dass er ihn kenne.“ Nach ein paar Schritten durchs Zimmer bleibt Hauptkommissar Krüger stehen: „Kann das, was Ihr Bruder andeutete, mit seiner Arbeit zu tun haben? Wissen Sie zufällig, womit er sich zurzeit beschäftigte? Sie sagten, Sie hätten nicht verstanden, warum er aus Mailand weggegangen sei. Könnte es da möglicherweise einen Zusammenhang geben?“

      Die vielen Fragen, Spekulationen versetzen Claude in eine Art taumelnder Ratlosigkeit: „Keine Ahnung, Herr Kommissar.“ Die Bemühungen, seine Gedanken in einigermaßen geordnete Bahnen zu bringen, scheitern immer wieder beim Anblick des leblos vor ihm Liegenden, dessen tragisches Ende ihn mehr und mehr mit Wut, Zorn erfüllt, die den so bitter empfundenen Schmerz, Verlust zusehends überdecken. ‚Wer es auch war, ich werde ihn finden’, schwört er seinem Bruder, ‚das bin ich dir schuldig!’ Erinnerungen tauchen schemenhaft vor seinen Augen auf, Frequenzen stakkatoartiger Einzelbilder, in denen Stationen ihrer gemeinsamen Vergangenheit eingefangen sind.

      „Dann wissen Sie sicherlich auch nicht, für wen Ihr Bruder derzeit arbeitete“; unterbricht des Kommissars Stimme Claudes gedanklichen Ausflug, „für welches Magazin oder welche Agentur?“

      „Tut