Schibulsky zuckt zusammen. „Oh, Verzeihung, da muss ich mich verwählt haben.“ So schnell wie möglich beendet er das Gespräch. Er kontrolliert noch einmal die Ziffernfolge auf der Wahlwiederholung. „Mmmh, das verstehe ich nicht“, murmelt er in seinen Stoppelbart. „Die Nummer muss doch stimmen.“ Daher wählt er nochmals dieselbe Nummer.
„Professor Dr. Karl-Friedrich Boerne, wir wünschen einen schönen guten Tag. Was können wir für Sie tun?“
„Entschuldigen Sie die Störung. Hier spricht Robert Schibulsky aus Bielefeld. Ich wollte eigentlich Hauptkommissar Thiel sprechen.“
„Natürlich, ich verstehe“, antwortet der Rechtsmediziner. Sie wollen meinen Nachbarn sprechen. Wissen Sie, wir haben eine Telefonschaltung zwischen unseren benachbarten Wohnungen. Wenn die gewünschte Person gerade nicht da ist, schaltet unser Computer zum jeweils anderen Apparat um.“
„Ach ja, ich verstehe“, erwidert Robert, obwohl er eigentlich nichts verstanden hat. Also ist Ihr Nachbar nicht zu Hause, oder?“
„Das würde ich so nicht sagen. Ich glaube, es ist gestern Nacht wieder mal sehr spät bei ihm geworden. Sein Fußballklub FC St. Pauli hat wohl nach langer Zeit wieder mal gewonnen. Dann kommt der Herr Hauptkommissar immer schlecht aus den Federn, wenn Sie verstehen. – Worum geht es denn eigentlich?“
„Wissen Sie, Herr Professor, ich bin auch Hauptkommissar der Mordkommission Bielefeld gewesen. Und ich habe eine eher inoffizielle Frage zu den Ermittlungen der Kripo Münster.“
„Ja, aber, lieber guter Mann, da können Sie doch auch mich fragen. Wir arbeiten immer sehr eng zusammen, Thiel und ich.“
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür zu Boernes Wohnzimmer. Verschlafen schaut Frank Thiel um die Ecke. Trotzdem schließt er blitzschnell, dass sein Nachbar sich wie immer in Sachen einmischt, die ihn nichts angehen.
„Mensch, Boerne, halten Sie sofort den Mund und kümmern Sie sich lieber um Ihre Angelegenheiten. Wollten Sie nicht heute Morgen schon die Leiche der jungen Studentin obduzieren, die wir gestern Nacht aus dem Aasee gefischt haben?“
Der Professor wiegelt mit dem linken Arm ab. „Sie nun aber auch wieder. Ist wohl gestern wieder etwas später geworden? Und die Luft war so trocken, nicht?“
Thiel geht ärgerlich auf seinen Nachbarn zu, deutet mit der rechten Faust auf dessen Kinn und reißt ihm den Telefonhörer aus der Hand. „Ja, hier spricht Hauptkommissar Thiel, heute ist Wochenende. Was wollen Sie denn?“, blafft Thiel mürrisch in den Hörer.
„Entschuldigen Sie, Herr Thiel. Hier spricht einer Ihrer Ex-Kollegen aus Bielefeld. Ich wollte Sie etwas fragen. Es geht um Mord und Erpressung, verübt von Tätern aus Münster. Vielleicht haben Sie von dem Fall aus Oberstdorf im Dezember gehört?“
„Hmmm, mal überlegen. Wenn, dann aber eher beiläufig, Herr …?“
„Robert Schibulsky.“
„Herr Schibulsky. Ich erinnere mich, dass wir einige Anfragen bezüglich einer Bande von Jugendlichen aus Bielefeld erhalten haben.“
„Genau, Herr Thiel, die kamen von meinem Kollegen KHK Siegfried Baranowski aus Bielefeld. Der Anführer, namens Nasreddin Babayigit, konnte als Täter bei drei Mordfällen überführt werden. Er wurde übrigens auf der Flucht mit seinem Motorrad in den Bergen bei Oberjoch erschossen. Sein Freund Steffen Herbst wurde wegen Entführung und Erpressung und wahrscheinlich auch wegen Beihilfe zum Mord gefasst. Mich interessieren allerdings auch noch die beiden weiblichen Mitglieder der Bande: eine Charlotta Bernaschek und eine Agneta Kubulus. Alle haben in Münster gewohnt.“
Frank Thiel hat aufmerksam zugehört, aber nicht sogleich alles aufgenommen. Daher fragt er vorsichtig nach: „Ist denn Ihr Fall noch nicht abgeschlossen?“
„Die Morde von Oberstdorf hat die Kripo Kempten aufgeklärt. Von daher gibt es keinen weiteren Bedarf. Ich habe allerdings das Gefühl, dass die beiden Frauen mit zu den Tätern gehören und sich rächen könnten.“
„Hören Sie, Herr Schibulsky, im Moment bin ich da überfragt. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich mich nochmals um die Sache kümmern werde.“
„Das wäre schön.“ Robert zögert einen kurzen Augenblick. Dann wechselt er das Thema: „Herr Thiel, ich habe von Ihrem Nachbarn gehört, dass Sie eingefleischter St. Pauli-Fan sind. Ich bin alter Bielefelder Armine. Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Spiel Bielefeld gegen St. Pauli einlade. Ich glaube, die spielen in der nächsten Woche hier in Bielefeld gegeneinander.“
Frank Thiel schießen Tränen in die Pupille. Er muss augenblicklich an seinen alten Heimatort denken. An sein geliebtes Hamburg und seine geliebten Kiez-Kicker. Deshalb stimmt er spontan zu: „Alte Fußball-Fans müssen zusammenhalten. Ich melde mich bestimmt: wegen der Damen und wegen des Spiels.“
„Wunderbar! Rufen Sie mich an!“
Langsam legt Robert sein Nokia auf den Nachttisch. Irgendwie hat er das Gefühl, einen neuen Freund gewonnen zu haben. Jetzt muss er nur noch schleunigst aus diesem Krankenhaus herauskommen.
Kapitel 3 - Polizei Oberstdorf 04.02., 08:30
Peter Endras leitet die Polizeistelle in Oberstdorf. Nach den Ereignissen in den letzten Weihnachtstagen, bei der er maßgeblich an der Aufklärung dreier Morde in der Marktgemeinde beteiligt war, ist der 42-Jährige gerade zum Polizeihauptmeister befördert worden.
Der Polizeianwärter Eckhard Zwanziger sitzt verzweifelt an seinem Computerplatz. Er muss noch die drei kleineren Einsätze vom Wochenende protokollieren: ein Auffahrunfall auf der B19 bei der Zufahrt zu McDonald´s, eine Schlägerei zwischen Eishockeyfans der EISBÄREN Oberstdorf und des EA Schongau, die das enttäuschende Ergebnis der Heimmannschaft von 1 : 5 nachträglich doch noch in einen Sieg umwandeln wollten, und ein Wohnungseinbruch bei der Metzgerei Schweinsteiger, bei dem neben der Geldbörse der Gattin auch zwanzig Weißwürste aus der Tiefkühltruhe im Keller gestohlen wurden.
PHM Endras studiert angestrengt die Allgäuer Rundschau. Als Trainer der Eishockeymannschaft ist er Kummer gewohnt. Aber jetzt fordert sogar der Sportkommentator der Lokalpresse schon seinen Kopf: EISBÄREN verspielen letzte Aufstiegschance. Wie lange lässt Vereinsboss Ulrich Winterscheid Trainer Endras noch gewähren?
Kopfschüttelnd flüstert Endras vor sich hin: „ Ja, vielleicht hat der Schreiberling sogar Recht.“ Ganz langsam setzt sich in seinen Gehirnwindungen fest: „Warum soll ich mir den Stress noch länger antun? Nach der Saison ist Schluss!“
Die Eingangstür schwingt geräuschvoll auf. Dominik Steingasser und seine Freundin Dorothea Schneider betreten den Raum. Dominiks Vater Xaver war Vorsitzender des Vereins der RECHTLER. Er wurde am ersten Weihnachtstag ermordet, da er sich gegen die Errichtung eines Erlebnisparks oben an der Erdinger Arena ausgesprochen hatte.
„Gut, dass du so schnell kommen konntest, Dominik“, begrüßt Peter Endras den neuen Besitzer des Ponyhofs im Dummelsmoos.
„Was gibt es denn so Dringendes?“, ruft Dorothea ungeduldig dazwischen.
„Ja, genau“, beteuert Dominik. „Ich muss zurück zum Hof. Mutter wird mit der neuen Situation allein nicht fertig.“
„Dann will ich es kurz machen. Wie ihr wisst“, - und dabei schaut er abwechselnd beide mit strengem Blick an – „ist vor zwei Wochen die „Schnatossi-Bar“ beim Hotel „Dolde“ abgebrannt. Die Feuerwehr hat zunächst mal als Grund Brandstiftung ausgeschlossen. Mir liegt jetzt aber ein Brief vor, in dem du beschuldigt wirst, den Brand gelegt zu haben.“
„Ach, geh, was soll denn der Schmarrn. Ich habe doch schon der Kripo aus Kempten gesagt, dass ich an dem Donnerstag schon morgens eine Kutschfahrt bis raus nach Spielmannsau hatte, ich glaube, die war vom Verein der katholischen Landfrauen bestellt und organisiert worden.“
„Richtig, Dominik, so hast du es Hauptkommissar Riethmüller in Kempten