Ein breiter Lichtstreifen fiel durch die Wohnzimmertüre in den Raum hinter dem Ladentisch und ermöglichte es Herrn Verloc, einen Blick auf die Zahl der Silbermünzen in der Ladenkasse zu werfen. Es waren nur wenige, und zum ersten Mal, seit er seinen Laden eröffnet hatte, versuchte er, ihn geschäftlich einzuschätzen. Diese Einschätzung fiel ungünstig aus. Ihn hatte keine geschäftliche Erwägung zum Handel geführt, vielmehr war bei der Wahl dieses Geschäftszweiges seine innerliche Neigung zu dunklen Machenschaften maßgebend gewesen, mit denen leicht Geld zu verdienen ist. Dann führte ihn dieser Handel auch nicht aus seinem Kreise heraus – aus dem Kreise derer, die von der Polizei beobachtet werden. Im Gegenteil, er wies ihm einen offenen, anerkannten Platz in diesem Kreise an, und da Herr Verloc geheime Beziehungen hatte, die ihn mit der Polizei vertraut machten und ihn der Notwendigkeit überhoben, auf sie aufzupassen, so bot diese Lage ausgesprochene Vorteile. Die Mittel zum Lebensunterhalt allerdings waren daraus allein nicht zu ziehen.
Er zog die Kassenschublade heraus und bemerkte, im Begriff, den Laden zu verlassen, daß Stevie immer noch unten war.
Was in aller Welt tut er noch hier, dachte sich Herr Verloc. Was sollen die Mätzchen? Er sah seinen Schwager zweifelnd an, ließ aber keine Frage laut werden. Herrn Verlocs Unterhaltung mit Stevie beschränkte sich auf ein gelegentliches Murmeln in den Morgenstunden, nach dem Frühstück, »meine Schuhe«, und auch das war eher die allgemeine Verlautbarung eines Bedürfnisses, als ein unmittelbarer Auftrag oder Wunsch. Herr Verloc bemerkte mit einiger Überraschung, daß er nicht wußte, was er zu Stevie sagen sollte. Er stand mitten im Wohnzimmer und sah schweigend in die Küche hinunter. Er wußte auch nicht, was geschehen würde, wenn er etwas sagte. Und dies erschien Herrn Verloc ganz besonders merkwürdig, angesichts der Tatsache, die ihm nun plötzlich zum Bewußtsein kam: daß er für diesen Burschen auch mit zu sorgen haben sollte. An diese Seite von Stevies Dasein hatte er bisher noch keinen Augenblick gedacht.
Er wußte also tatsächlich nicht, wie er den Jungen anreden sollte. Er sah ihm zu, wie er in der Küche gestikulierte und murmelte. Stevie rannte um den Tisch wie ein gereiztes Tier. Der Versuch eines »Willst du nicht lieber zu Bett gehn?« blieb ohne alle Wirkung; und Herr Verloc ließ die starre Betrachtung von seines Schwagers Gehaben sein und durchquerte müde, die Kassenschublade in der Hand, das Wohnzimmer. Da die Ursache der allgemeinen Müdigkeit, die er beim Stiegensteigen fühlte, rein geistiger Art war, so fühlte er sich dadurch erschreckt. Er würde doch wohl nicht krank werden? Er blieb in dem dunklen Vorraum stehen, um seine Gefühle genau zu prüfen. Dabei störte ihn aber ein leises und beständiges Schnarchen, das die Dunkelheit durchdrang. Der Laut kam aus dem Zimmer seiner Schwiegermutter. Noch eine, für die gesorgt werden mußte, dachte er – und ging mit diesem Gedanken in sein Schlafzimmer.
Frau Verloc war eingeschlafen, während die Lampe auf ihrem Nachttisch (Gas war im ersten Stock nicht gelegt) hell brannte. Das Licht fiel unter dem Schirm hervor grell auf das weiße Kissen, das von dem Gewicht ihres Kopfes tief eingedrückt wurde. Sie lag mit geschlossenen Augen und hatte das Haar für die Nacht in viele Zöpfe aufgesteckt. Nun fuhr sie auf, als ihr Name ihr Ohr traf, und sah ihren Gatten über sich gebeugt stehen.
»Winnie, Winnie!«
Zunächst rührte sie sich nicht, lag ganz ruhig und sah nach der Kassenlade in Herrn Verlocs Händen. Als sie aber begriffen hatte, daß ihr Bruder »unten herumturne«, schwang sie sich mit einer jähen Bewegung auf den Bettrand. Mit den bloßen Füßen, die aussahen, als wären sie durch den Boden eines schmucklosen Kalikosacks, mit Ringen an Hals und Handgelenken eng zugebunden, durchgesteckt, tastete sie auf dem Boden nach den Pantoffeln, während sie ihrem Mann ins Gesicht sah.
»Ich weiß nicht, wie ich ihn bändigen soll,« erklärte Herr Verloc verdrießlich, »und es geht doch auch nicht, daß er unten bleibt, mit all den brennenden Lichtern.«
Sie sagte nichts, glitt rasch durch das Zimmer, und die Tür schloß sich hinter ihrer weißen Gestalt.
Herr Verloc setzte die Kassenlade auf seinen Nachttisch und begann mit dem Auskleiden, indem er seinen Überrock auf einen weit wegstehenden Stuhl warf. Jacke und Weste folgten. Er ging in Socken durch das Zimmer, und seine stämmige Gestalt mit den Händen, die unruhig an der Kehle herumzerrten, tauchte immer wieder in der langen, schmalen Spiegeltüre des Kleiderkastens auf. Endlich schleuderte er die Hosenträger von den Schultern, riß dann ungestüm die Rolladen hoch und legte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Diese dünne Glasplatte trennte ihn nun von der ungeheuren Anhäufung von Ziegeln, Schiefer und Steinen, Dingen, die an sich nicht schätzenswert und dem Menschen abhold sind und sich da draußen in naßkaltem, schmutzigem Dunkel ausbreiteten.
Herr Verloc empfand die Feindseligkeit der lauernden Außenwelt mit einer Stärke, die an körperliche Angst grenzte. Es gibt keine Beschäftigung, die einem Manne weniger Rückhalt bietet als die eines geheimen Polizeiagenten. Es ist, wie wenn das Pferd tot unter einem zusammenfällt, inmitten einer unbewohnten, wasserlosen Wüste. Der Vergleich drängte sich Herrn Verloc auf, weil er zu seiner Zeit mehr als ein Militärpferd geritten und nun das Gefühl eines bevorstehenden Sturzes hatte. Die Zukunft war so schwarz, wie die Fensterscheibe, gegen die er seine Stirn lehnte, und plötzlich tauchte das Gesicht des Herrn Vladimir, glattrasiert und witzig, in rosigem Schimmer auf, wie ein rotes Siegel auf dem schicksalhaften Dunkel. Diese leuchtende Erscheinung war so furchtbar körperlich, daß Herr Verloc vom Fenster wegsprang und den Rollladen rasselnd fallen ließ. Sprachlos bestürzt über die Wiederholung solcher Gesichte, merkte er noch, daß sein Weib wieder ins Zimmer trat und sich mit sozusagen geschäftlicher Ruhe wieder zu Bett legte, was in ihm das Gefühl wachrief, in der Welt hoffnungslos allein zu stehen. Frau Verloc äußerte ihre Überraschung darüber, ihn noch wach zu finden.
»Ich fühle mich nicht recht wohl«, stammelte er und fuhr sich mit den Händen über die feuchten Brauen.
»Schwindlig?«
»Ja, gar nicht gut.«
Frau Verloc ließ mit aller Sanftmut der erfahrenen Gattin eine vertrauliche Vermutung über den Grund laut werden und riet zu den üblichen Gegenmitteln; ihr Mann aber stand starr in der Mitte des Zimmers und schüttelte trübe den gesenkten Kopf.
»Du wirst dich erkälten, wenn du da stehen bleibst,« sagte sie.
Herr Verloc gab sich einen Ruck, zog sich vollends aus und ging zu Bett. Tief unten in der ruhigen Gasse näherten sich gemessene Schritte dem Hause und verklangen wieder, fest und ohne Eile, als ob der, der da vorbeiging, sich vorgenommen hätte, in einer endlosen Nacht die Ewigkeit von Gaslampe zu Gaslampe zu durchmessen; und das schläfrige Ticken der alten Uhr im Stiegenhause war im Schlafzimmer deutlich zu hören.
Frau Verloc, die auf dem Rücken lag und nach der Decke sah, machte eine Bemerkung.
»Sehr kleine Einnahme heute.«
Herr Verloc, in der gleichen Lage, räusperte sich wie zu einer wichtigen Feststellung, fragte aber dann nur:
»Hast du das Gas unten abgedreht?«
»Ja, das tat ich,« gab Frau Verloc zurück. »Der arme Junge ist heute abend recht aufgeregt«, murmelte sie nach einer Pause, die drei Pendelschläge der alten Uhr lang gedauert hatte.
Herr Verloc kümmerte sich durchaus nicht um Stevies Aufregung, doch fühlte er sich elend wach und fürchtete sich vor der Finsternis und Stille, die dem Auslöschen der Lampe folgen mußten. Diese Furcht veranlaßte ihn zu der Bemerkung, daß Stevie seine Aufforderung, zu Bett zu gehen, nicht beachtet habe. Frau Verloc ging in die Falle und begann langatmige Erklärungen darüber, daß das nicht »Ungezogenheit«, sondern einfach »Aufregung« gewesen sei. Sie versicherte, daß es in ganz London keinen jungen Mann dieses Alters gäbe, der williger und gelehriger