Schließlich kam Tag X. Was für ein Scheißtag! Zuerst: verschlafen. Zur Strafe musste ich - wen wundert es bei einem Chef, der gerne seine schlechte Laune an seinem schwächsten Mitarbeiter auslässt? - drei Stunden länger buckeln. Als ich dann endlich nach Hause kam, hat mich eine Nachbarin auf der Straße angesprochen, mich gefragt, ob zufällig ein Paket für sie bei uns abgegeben wurde. Mein Vater stand währenddessen am Fenster, beobachtete uns. Als ich rein kam, hat er doch tatsächlich felsenfest behauptet, ich hätte mit der Frau über ihn gelästert. Was für ein Quatsch! Als ob ich mich so etwas jemals getraut hätte. Aber: Alles argumentieren, verneinen und abstreiten half nichts. Die zerkratzte Gürtelschnalle bekam ich wieder einmal zu spüren und dieses Mal so heftig, dass ich an der Hüfte eine Fleischwunde davontrug.
Elena sog Luft durch die Zähne.
Ich lief daraufhin nach draußen, wollte zu dem Ort, der mir vertrauer war als alles andere: dem Ort, an dem die Bahngleise aus dem Boden ragen. Wen treffe ich auf meinem Weg dorthin? Darf das wahr sein? Thorsten Müller, einen ehemaligen - verhassten - Klassenkameraden, einen großen athletischen Typen und angehenden Rechtsanwalt. Thorsten stand in Anzug, Krawatte und mit Ledertasche in der Hand vor mir und lachte: "Na, wie geht es unserem fetten Metzger?" fragte Müller. Und weil der Tag ohnehin schon so fürchterlich war, weil das Leben immer und überall so fürchterlich zu mir war, antwortete ich nicht, sondern lief davon, laut schluchzend. "Du Memme", rief der Rechtsanwalt mir hinterher. Da war ich soweit. Ich wusste: Jetzt würde ich es tun.
Doch ... ich tat es nicht. Ich saß nur im Gebüsch, mit verweinten Augen, triefender Nase, schmerzender Hüfte ... fett, hässlich, stinkend und zu allem Übel auch noch ... feige. Ein Zug nach dem anderen rauschte vorbei. Laut, ohrenbetäubend, rasend schnell.
Elena schluchzte.
Irgendwann ging ich nach Hause zurück; es war schon dunkel. Ich ging zur Haustür, wollte sie aufschließen, doch jemand öffnete sie von innen. Es war mein Vater, der sich instinktiv an die mit Rillen überzogene Gürtelschnalle fasste. Er sagte: "Mit Dir habe ich gar nicht mehr gerechnet. Ich war sicher: Heute würdest Du es tun." Da stand ich, mit offenem Mund, wässrigen Augen, wusste nichts zu sagen. Und was tat Vater? Er grinste und sagte: "Warst wohl zu feige."
Elena konnte ihre Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Sie schniefte und schluchzte laut. Brief Nr. 5 war zu Ende. Und es gab keinen sechsten. Dennoch wusste sie, was geschehen war, nachdem der Vater diese grauenvollen Worte von sich gegeben hatte:
Michael hatte sich weinend in sein Zimmer zurückgezogen, drei Tage lang. Er hatte nicht gegessen, kaum getrunken, mit niemandem gesprochen. Am späten Abend des dritten Tages war er dann nach draußen gegangen: zu den Gleisen, zu seinem Busch, zu der Stelle, die ihm immer, wenn auch nur wenig, Trost gab. Eine Weile war er wohl noch dagestanden, hatte geweint, geschluchzt, gebebt. Irgendwann war er schließlich über die Mauer geklettert, die kein wirkliches Hindernis darstellte, und die kleine Erhöhung hinaufgegangen, die zwischen ihm und den Schienen lag. Er hatte sich hingelegt, auf die kalten flachen Steinplatten, die die Gleise aneinanderhalten und auf die spitzen scharfkantigen Steine, die die Zwischenräume füllen. Lange hatte es dann nicht mehr gedauert, da gaben die Gleise ein schleifendes Geräusch von sich und ein Pfeifen durchbrach zusätzlich die Stille ...
"Elena? Elena? Alles in Ordnung?" Die Falltür zum Dachboden ging quietschend auf. Ein Mann kam herein. Er runzelte die Stirn und kniete sich zu Elena auf den Boden. "Was ist denn los? Warum weinst Du?"
Der Mann legte seine Hände auf Elenas Schultern und strich ihr über die Arme bis zu ihren Händen hinunter. Als es raschelte, sah er in ihren Schoß. Er zog die Brauen nah aneinander, fragte: "Was, was hast Du denn da?" Er nahm ihr Brief Nr. 5 aus den zittrigen Händen und sah darauf, sekundenlang. Dann wanderte sein Blick zu den anderen vier Briefen, die um Elena herum auf dem Boden lagen. "Das sind ja ...", begann er.
"Es, es tut mir leid", sagte Elena schnell, "Ich weiß, ich hätte Dich vorher fragen müssen."
Der Mann ließ seine Schultern nach unten sinken und lächelte. "Nein, nein, schon gut. Ich hätte sie Dir längst gezeigt, wenn ich gewusst hätte, dass sie noch existieren."
"Du bist mir also nicht böse?"
Michael schüttelte den Kopf. "Nein, nicht böse. Versprochen!"
Elena sah noch einmal auf die Briefe hinab, sagte dann: "Ich, ich kannte die Geschichte ja schon. Aber sie zu lesen, so live ... das hat mich vollkommen umgehauen. Ich dachte, ich wüsste, was damals in Dir vorgegangen ist. Aber ...", Elena kämpfte erneut mit den Tränen, "nicht einmal ansatzweise hatte ich verstanden ..."
Michaels Kopf bewegte sich von rechts nach links. "Es ist schon gut. Ich glaube, das kann man nur dann ganz und gar verstehen, wenn man es selbst erlebt hat." Er hob einen Brief nach dem anderen vom Boden auf und ordnete sie nach ihrer Reihenfolge. Dann sagte er: "Ich habe sie nach meiner Therapiezeit aufgeschrieben, als ganz persönlichen Abschluss sozusagen. Es war, als wollte ich all das als Paket bündeln und für immer beiseite legen." Noch einmal blätterte Michael die Briefe durch. Er runzelte die Stirn, sagte: "Das sind nicht alle. Es gab einen weiteren, einen sechsten."
Elena zuckte mit den Schultern. "Ich habe nur die hier gefunden."
"Ist ja auch egal. Schließlich ist all das verblasste Vergangenheit, und", er legte Elena eine Hand auf die gerötete Wange, "heute ist alles gut." Michael lächelte und nahm seine Liebste in die Arme.
Elena schloss die Augen und sah noch einmal die Bilder vor sich, die die Briefe in ihr hervorgerufen hatten. Dann jedoch schüttelte sie sie ab.
Denn: Ja, all das war Vergangenheit; und: Ja, heute war alles gut. Gut, weil Michael damals wieder aufgestanden war, von den kalten vibrierenden Gleisen. Gut, weil er nicht wieder nach Hause gegangen war, sondern in eine Klinik, in der man ihn akzeptierte, wie er war, in der man ihm beibrachte, sich selbst zu akzeptieren, sich zu lieben und dem Vergangenen keine Bedeutung mehr beizumessen. Er war dort über ein Jahr geblieben, und auch danach hatte er über viele Jahre hinweg eine wöchentliche Therapiesitzung besucht.
Nach der Klinik war er in eine kleine Wohnung gezogen, hatte abgenommen, Sport gemacht, sich hübsche Kleider gekauft und angefangen mit dem Schreiben; dem Schreiben über das Leben, den Tod und den Weg in beide Richtungen. Schnell war der Erfolg gekommen, vielleicht deshalb, weil er vielen von der Seele sprach.
Und heute? Heute gehörte er zu ihr, so sehr, dass sie sich vor kurzem gemeinsam dieses kleine Haus aus dem 19. Jahrhundert gekauft hatten, dessen Holzdielen auf dem Dachboden knarrten.
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