Kommen wir nun die Geschichte abrundend zu Holstein und den Seinen.
Die fortschreitende „Germanisierung“ der Montagsdemonstrationen, wie er die Schwerpunkt-verlagerung der Demonstrantenrufe nach D-Mark und Wiedervereinigung bezeichnete, hielt Holstein schon Wochen vor der Jahreswende 1989 davon ab, sich an diesen Umzügen weiterhin zu beteiligen. Wiedervereinigung war nicht sein Thema.
Zwischen Weihnachten und Silvester des scheidenden Jahres machte sich Holstein nebst Daniela per PKW auf seine erste Reise in Richtung Westen, angestiftet durch Danielas heißes Begehren, auch endlich in den Besitz von Westgeld zu gelangen. Bis dahin wusste Holstein nicht einmal, wie diese Münzen und Scheine aussahen. Mit an Bord auch Vater Holstein, der war von Mutter Holstein beauftragt, sich nach ordentlichem Frischfisch jenseits der Grenze umzuschauen. Sie machten sich gegen Mittag auf die Reise und kamen im nächsten Ort nach der Grenze gegen sieben Uhr am Abend an. Knappe einhundert Kilometer legten sie in knapp sieben Stunden zurück. Diesmal aber lag’s nicht am Fahrzustand der „Soljankaschüssel“, schon vor Plauen gerieten sie auf der Autobahn in den Rückstau.
Holstein, der während seiner Militärdienstzeit an verschieden Ladungsmanövern der Warschauer Vertragsstaaten im Ostseeraum teilnahm und dabei zu Zeiten mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Luft-, Wasser- und Landfahrzeuge gleichzeitig im Einsatz sah, konnte es nicht fassen, was er durch die vereisten Scheiben des PKW erblickte: eine nicht übersehbarer Masse von Fahrzeugen mit Kfz-Kennzeichen von Rostock bis Dresden quälten sich bei zunehmend eisiger Winterluft in das Abendrot, aus allen möglichen Richtungen einherkriechend, riesigen Lindwürmern gleich über die sich im fürchterlichen Zustand befindlichen Straßen der kürzlich geöffneten Grenze entgegen.
Holstein bog gleich nach der Grenzdurchbruch auf einen Feldweg seitlich der Autobahn in die nächste Ortschaft ab. Vor dem Gemeindeamt im Talgrund warteten im benzindurchtränkten Abendnebel die noch auf Westgeld erpichten DDR-Bürger mehrfach an die fünfhundert Meter in einer Reihe nebeneinanderstehend mit Geduld auf die ersehnten Geldscheine, begafft dabei von den schaulustigen Altbundesbürgern. Die fuhren in ihren Wagen an der im abendlichen Dunst stehenden Menge vorbei, klotzten ungläubig und überheblich aus dem warmen Inneren ihrer Fahrzeuge auf die Reihen ihrer Brüder und Schwestern aus dem Osten, als wären diese Tiere im Zoo und verpesteten mit ihren Abgasen die Luft noch zusätzlich, so dass das Atmen in der Talsenke immer schwerer fiel. Holstein schämte sich in der Masse eingekeilt seiner selbst und seiner Landsleute wie ein Bettnässer, doch an Umkehr war angesichts Daniela Begehrlichkeiten nicht zu denken. Gegen acht Uhr Abends hatten auch die Holsteins endlich ihr Begrüßungsgeld in der Tasche, an Frischfisch freilich wurde um diese Zeit nicht einmal ein Gedanke mehr verschwendet. Für die Heimfahrt inmitten der unübersehbaren Fahrzeugkolonnen verbrauchten sie wiederum Stunden über Stunden, etwa drei Uhr nachts kamen sie völlig übermüdet und verklammt zu Hause an.
Die Ergebnisse der ersten freien Volkskammerwahlen im März des Jahres 1990 versetzten Holstein einen herben Schlag. Wohl hatte er den deutlichen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zur Kenntnis genommen, hatte die nur mäßige Resonanz auf Christa Wolfs Aufruf zum Erhalt der DDR mit großer Verdrossenheit vermerkt, hatte vor allem in den Stadtvierteln, wo massiv die Arbeiterschaft zu Hause war, die schier unendlichen Fahnenmeere schwarz-rot-goldener Prägung ohne Emblem gesehen, hatte wohl bemerkt, dass zur Wahlkundgebung der SPD mit Willy Brandt als Gastredner gerade einmal zehntausend Zuhörer gezählt wurden, während zur Veranstaltung der CDU mit Helmut Kohl weit über Zweihunderttausend schon Stunden vor Beginn der Veranstaltung in der eisigen Kälte auf dem Platz fahnenschwenkend und die erste Strophe des Deutschlandliedes singend ausharrten, war sich aber dennoch sicher, dass der Wahlausgang übergewichtig von den linken Kräften, die PDS darin eingeschlossen, getragen werden würde. Er sah sich bitter enttäuscht. Dass die Mehrheit der Arbeiterklasse ihrem ihr zugeschriebenen Führungsanspruch in der sozialistischen Gesellschaft und der ihr zugedachten historischen Mission im Rahmen dieser Wahlen nicht nachkam sondern statt dessen den schnellen Weg zur harten Westwährung vorzog, verwunderte Holstein allerdings nicht, hatten ihn doch seit Jahren schon seine Erfahrungen und Erkenntnisse an diesen Postulaten der Parteiführung fortschreitend die erheblichsten Zweifel aufkommen lassen.
Nun war ihm auch eindeutig klar, es würde in Richtung Anschluss an die alte BRD keine Alternative mehr geben. Entschieden hatte das Volk der DDR, der Souverän, so wie auch er es seit dem stürmischen Herbst des vergangenen Jahres nachhaltig forderte. Das nun vom Volk in freier Entscheidung erbrachte Wahlergebnis, wie immer auch stimuliert und beeinflusst, musste und würde er akzeptieren, so schlimm ihm diese Wahl-Entscheidung auch aufstieß. Jetzt war ihm klar, es würde keine Demokratisierung und wirtschaftliche Konsolidierung der DDR mehr geben. Nach Lage der Dinge würde es die DDR, sein Vaterland, für welches er drei Jahrzehnte gearbeitet, gestritten und gekämpft hatte, schon bald selbst überhaupt nicht mehr geben. Die zahllosen und namenlosen Opfer, die freiwillig getragenen Entbehrung der vielen selbstlos und ehrlich am Menscheitsexperiment Sozialismus Mitwirkenden würden versanden und zeitweilig in Vergessenheit geraden, das Ideal aber wird bleiben. Seit Menschen Geschichte schreiben hat es den Kampf gegeben zwischen den unzähligen und ohnmächtigen Nichtprivilegierten einerseits und den wenigen Privilegierten und ihren Machtorgane auf der anderen Seite. Es wird ihn immer geben, diesen Kampf, den Marx den Kampf der Klassen nennt. In seinen zukünftigen Formen aber werden auch die Erfahrungen und Lehren aus dem ein Drittel der Weltbevölkerung umfassenden Versuch zur Errichtung einer gerechteren Menschenordnung Eingang finden, so kläglich der Versuch am Ende auch scheiterte.
Bereits vor dem Anschluss an die Alt-BRD wurde das Land mit Hasardeuren und Bauernfängern aller Couleur, die in lila oder kleinkarierte Jackets gewandet als Versicherungsvertreter, Finanzdienstleister und anderweitig dubiose Berater daherkamen, überschwemmt, welche die auf diesem Terrain bislang völlig unbeleckten und untrainierten Neubundesbürgern über den Tisch zogen, dass es nur so seine Art hatte, und Holstein überkam ein Gefühl des ohnmächtigen Ekels.
Mit Entsetzen sah Holstein die Bilder, da hochdekorierte NVA-Jagdpiloten, die Ritterkreuzträger der NVA gewissermaßen, ihre MIG-29 auf Flugplätze um Frankfurt am Main und anderswo überführten. Jahre später las er davon, dass eine Besatzung nur aus Offizieren bestehend das modernste Raketenschiff der Volksmarine aus seinem, Holsteins, ehemaligen Standort Dranske über den Atlantik den US-Streitkräften zuführte. Nein, Holstein hatte nicht den Stolz der Truppe aus den Tagen von Scapa Flow erwartet, aber auch nicht demütige Anbiederungen solcher Art.
In der Folgezeit traf er mehrfach in betrieblichen Lehrgängen auf Wissens- und Erkenntnisträger des Altbundeslandes, deren Erkenntnisse, so jedenfalls es den deutschen Osten betraf, mit einem Radius gleich Null zirkulierten, die sich dennoch unbedacht ihrer schlimmen und ganz offensichtlichen Wissenslücken mit einem nicht zu übertreffenden Selbstwertverständnis unverblümt, überheblich und arrogant anmaßten, den aus freier Wahl Angeschlossenen nicht nur Buchhaltung und Kollektivgeist, welch letzteren sie als die wirklichen Deutschen Teamgeist nannten, zu lehren und zu predigen sondern darüber hinaus sogar die Fähigkeiten der Neubundesbürger in Sachen Autofahren, Gebrauch von Messer und Gabel und anderer Zivilisationsgüter als hochgradig entwicklungs- und ausbildungsbedürftig ansahen und dies ihre Zuhörerschaft auch deutlich spüren ließen. Das Wort vom „Besser-Wessi“ machte so Furore und schnell die Runde in ostdeutschen Landen, und Holstein erinnerte sich der Worte Theodor Storms, geschrieben im Jahr 1867, drei Jahre nach dem Preußisch-Dänischen Krieg: Wir können nicht verkennen, dass wir unter Gewalt leben. Das ist desto einschneidender, da sie von denen ausgeht, die wir gegen die vorherige Gewalt zu Hilfe riefen und die uns jetzt, nachdem sie jene zu bewältigen geholfen, wie einen besiegten Stamm behandeln, indem sie die wichtigen Einrichtungen, ohne uns zu fragen, hier über den Haufen werfen und andere dafür oktroyieren.