Opa Lu war hier in Neubrandenburg unser von allen geliebtes und geachtetes Familienoberhaupt. Bei den Mahlzeiten gehörte ihm der Platz an der Stirnseite des Tisches, wo sonst Vater gesessen hätte. Neben ihm saßen wir alle altersmäßig gegliedert mit Mutter und Oma Lu dazwischen um den Tisch herum.
Einmal passierte ihm ein lautes Malheur. Er wurde daraufhin rot und sagte aber schlagfertig: „Der musste raus. Der hatte keine Miete bezahlt."
Ein schallendes Gelächter unsererseits war die Antwort.
Auch hier in Neubrandenburg gingen wir jeden Tag spazieren. An jeder Seite von Opa Lu gingen seine ständigen Begleiter: Hermann und Dankwart. Sie hatten ihn für sich gepachtet, so schien es mir. Rotraut und ich hielten uns immer an Mutter und Oma Lu.
Ein krasses Ende nahm diese eigentlich doch ganz schöne Zeit, als der Arzt am 23. April 1945 bei Mutter und mir Scharlach feststellte. Der Arzt bestellte uns eine Transportmöglichkeit, um ins Krankenhaus zu gelangen. Wir kamen beide in ein kleines geschlossenes Fahrzeug, das nach allen Seiten mit einer gelblichen und leicht durchsichtigen Folie bespannt war. Wir wurden von einem Mann gezogen. Durch diese Folie sah ich ein dichtes Menschengewühl auf der Straße. Hin und wieder fuhren große Militärfahrzeuge an uns vorüber.
Mutter und ich wurden zusammen in ein Zimmer mit Doppelbetten gelegt. Außer uns befanden sich noch zwei weitere Personen in diesem Raum, und zwar eine ältere Frau und ein anderes kleines Mädchen.
Wir bekamen unsere Medizin, unsere Eiswickel um den Hals und mussten laufend Fieber messen. Das peinlichste Erlebnis dabei war ja, dass bei mir das Fieber im Darm gemessen wurde. Das hatte noch niemand mit mir gemacht. Leider bekamen das meine Geschwister heraus und machten sich später oft darüber lustig.
An diesem 23. April jedenfalls wachte Mutter abends von einer dunklen Stimme auf und dachte im Halbschlaf: "Nun kommt Jochen. Denn heute ist sein 34. Geburtstag." Aber es war leider nur eine Täuschung. Ein Arzt kam in unser Krankenzimmer.
Nach ca. einer Woche Aufenthalt im Krankenhaus wurden wir wieder entlassen. Jetzt ging in Neubrandenburg alles drunter und drüber, weil der Russe vor den Toren stand. In der Zeit unseres Krankenhausaufenthaltes hätte sich die letzte Möglichkeit für uns geboten, mit einem Lkw in den Westen zu fliehen. Aber jetzt konnten wir nicht mehr aus Neubrandenburg weg.
Mutter hatte im Krankenhaus ein Mädchen kennen gelernt, das uns helfen wollte. Sie wurde früher als wir entlassen und wollte nur noch in der Stadt etwas einkaufen und wieder zu uns zurückkommen. Sie wusste nicht, wo ihre Eltern waren und war froh, dass sie sich uns anschließen konnte. Aber in der Stadt traf sie deutsche Soldaten und ließ sich von ihnen mitnehmen.
Immer öfter heulten die Sirenen wegen des Fliegeralarms. Ich nahm jedes Mal auch meine neue hübsche Puppe mit der BdM-Tracht mit in unseren Keller.
Und plötzlich stand ein Nachbarjunge bei uns in der Stube und rief: "Die Marzipanfabrik brennt! Wollt ihr mitkommen und Marzipan holen?"
Und ob wir wollten! Wie die Wiesel liefen Rotraut, Hermann, Dankwart und ich hinter ihm her. Die Fabrik stand in hellen Flammen. Die großen Tore standen sperrangelweit offen. So gelangten wir in den großen Lieferraum, an dessen Wänden auf Regalen viele Tabletts mit den verschiedensten Marzipanfiguren in mehreren Farben standen. Jeder von uns griff sich so ein Blech. Und gemeinsam liefen wir vorsichtig damit zurück nach Hause. Nun schwelgten wir in Marzipan. Da habe ich mir dieses so übergegessen, dass ich noch heute im Jahre 1987 keinen Appetit mehr darauf habe.
Schräg gegenüber von unserem Haus stand das sehr große Privathaus eines Fabrikbesitzers. Wir wurden aufgefordert, bei jedem Fliegeralarm dort in den Keller zu gehen. Aber nach jeder Entwarnung konnten wir wieder zurück in unser Haus.
Plötzlich hörten wir Maschinengewehrsalven in der Ferne. Es war der 28. April 1945. Hermann, Dankwart und ich kletterten hoch auf den hohen Turm, der sich auf dem großen Haus des Fabrikbesitzers befand. Von dort oben sahen wir auf die Dächer Neubrandenburgs hinunter. Am Horizont brannte ein Tor. Nun sausten wir schnell wie die Wiesel wieder hinunter, weil wir es jetzt sehr mit der Angst zu tun bekamen.
„Mami, Mami, es brennt! Die Russen sind da!" rief Hermann.
Unsere ganze Familie wollte nun so schnell wie möglich wieder in den großen Keller des Fabrikbesitzers gehen. Mutter war eigentlich krank und lag oben in ihrem Bett, wenn wir in diesen Tagen im Haus waren. Wir konnten aber nicht gleich hinübergehen, weil mein kleiner Bruder Helmut nicht zu Hause war.
Während ich so oben aus dem Fenster schaute, sah ich den ersten Panzer mit den Russen in die Straße einbiegen. Die Panzersperre, die dort aufgebaut war, walzte er einfach platt. Neben ihm liefen Russen mit Panzerfäusten in den erhobenen Händen. Plötzlich sah ich Helmut, der in Windeseile zu uns lief. Sofort gingen wir alle wieder hinüber in den Keller.
Aber es dauerte nicht lange, so erschienen hier unten die Russen und suchten in erster Linie nach deutschen Soldaten. Weil sich hier aber nur viele Frauen, Mütter mit Kindern und Omas und Opas versammelt hatten, wollten sie Schmuck, Uhren, Schnaps und Radios von uns haben. Alle Gepäckstücke, die hierher mitgenommen worden waren, wurden aufgeschnitten und durchwühlt. Wie wir nun von diesem vornehmen Haus in unser Haus zurück wollten, wurde unser Nachbarhaus bombardiert. Es gehörte einem leitenden Offizier der deutschen Wehrmacht. Es ging in Flammen auf. Unser Haus blieb zum Glück verschont. Wir gingen wieder hinein.
Leider hatte ich meine Puppe nicht mit hinüber in den großen Keller genommen. In der Zwischenzeit muss unser Haus von Russen durchsucht worden sein; denn sie hatten sie mitgenommen. Das machte mich ganz traurig.
Mutters alte Puppe mit den Gelenken an den Knien, Hüften, Schultern und Ellenbogen hatten sie liegengelassen. Nur das war aber ja nicht meine!
Alle Adeligen mit ihren ganzen Familien und auch die Angehörigen von leitenden Offizieren der NS-Mitglieder wurden an die Wand gestellt und totgeschlagen. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.
Jeden Abend kamen jetzt die Russen zu uns. Obgleich sich Mutter auf Anraten ihrer Eltern wie eine ganz alte Frau ausstaffierte, holten sie sie immer aus unserer Mitte. Trotz ihres Weinens und Bettelns musste sie mit ihnen mitkommen. Es waren immer mehrere, die gemeinsam kamen. Sie sagten nur: "Frau, kommt mit!"
Weil wir aus diesem Grund aus diesem Haus ausziehen wollten und schon die gepackten Koffer unten in der Stube hatten, schnitten sie sie mit ihren langen gebogenen Messern auf, um sie zu untersuchen, ob da nicht vielleicht doch noch eine Uhr versteckt war.
Mein Opa Lu sagte zu ihnen, dass sie die Koffer nun wieder heil machen sollten. Da lachten sie nur, klappten die Koffer zu, spuckten auf die aufgeschlitzten Seiten, wischten mit den Händen darüber hin und her und sagten: „Nun wieder heil."
Am nächsten Tag stand plötzlich ein Russe in unserer Stube und sagte: "Neubrandenburg ist Kriegsschauplatz. Alle müssen aus den Häusern."
Wir mussten unsere Wohnung verlassen, weil Neubrandenburg nicht kapitulieren wollte. Es kam zum Luftangriff.
Mit Oma und Opa Lu gingen wir in den Wald und mussten da übernachten. Wir hatten aber nichts, worauf wir schlafen konnten. Opa Lu sammelte Laub und Zweige und bereitete für unsere Familie ein Lager unter dichten Bäumen.
Russen durchsuchten in dieser Nacht den Wald nach Männern, Frauen und Kindern. Alle, die sie fanden, schleppten sie ab, schmissen sie auf Lastwagen und transportierten sie nach Sibirien oder ins Konzentrationslager, wo sie arbeiten mussten, ohne etwas zu Essen zu bekommen. Dort sind sie an Entkräftung umgekommen.
An diesem ersten Abend suchte Oma Lu in der Nachbarschaft Kühe auf, die verlassen