Kapitel 7 - Ussuri: eine Banditen-Karriere
“In Ordnung, Limontschik, das war’s für heute. Hast Du noch was?”
“Nichts von Bedeutung, Ussuri. Ist ja klar, dass wir Aladin im Auge behalten. Sollen wir uns um Marat im spanischen Knast kümmern?”
“Marat? Wir lassen ihn in Ruhe, da findet sich bestimmt noch jemand, der uns diese Arbeit abnimmt. Ach ja, kümmere Dich um die Vorbereitung auf die Skhodka. Ich will nicht, dass da auf dem Wasser was schief läuft!”
“Geht in Ordnung, verlass Dich auf mich. Poka.”
“Mach´s auch gut.”
Limontschik ging, Sweta schaute fragen herein. “Nein, Häschen, heute nicht.” Abwehrend wedelte er mit seiner Zigarre. Er wollte allein seinen Gedanken nachhängen. Tief vergrabene Erinnerungen tauchten aus dem Dunkel der Vergangenheit auf.
Damals, als neunjährige Waise, allein auf den Straßen von Ussurijsk , hatte er sich mit kleinen Diebstählen und Botengängen für die zahlreichen Banden über Wasser gehalten. Mit 13 gründete er eine eigene Gang. Voller Rührung erinnerte er sich, wie er das erste Mal den Inhaber eines Kiosks zusammengeschlagen hatte, weil der seine Schutzgebühr nicht hatte zahlen wollen. Das waren noch Zeiten gewesen, naiv und unschuldig. Gewalt? Hie und da eine blutige Nase, ein gebrochenes Bein, ein zerschmetterter Arm, das war`s auch schon. Auch für die Streitigkeiten der Gangs untereinander reichten Knüppel, Messer oder Baseballschläger. Man hielt sich an eine Art ritterlicher Übereinkunft, möglichst niemanden zu töten. Auch war der Respekt vor dem Lager und den „Menty“, den Milizionären, wie sie damals hießen, noch groß.
Wo sind die Zeiten geblieben, grübelte Ussuri, und schenkte sich noch etwas Tee in die Tasse aus zartem Chinaporzellan.
Das erste Mal hatte er ins Straflager einrücken müssen, weil sie ihn dabei erwischt hatten, wie er auf der einsamen Überlandstrecke Autofahrer überfallen und ausgeraubt hatte. Die dummen Tröpfe waren mit dicken Bündeln Bargeld zu einem entlegenen Automarkt gefahren, um sich eines der geschmuggelten japanischen Autos zu besorgen. Selbst schuld, wenn sie nicht auf ihre Sicherheit achteten.
Sein Fehler allerdings war, dass er den Schwager des örtlichen Polizeichefs nicht erkannt hatte. Damit, das sah er ein, hatte er eine Grenze überschritten. Später, als er längst selbst groß in der Schmuggelbranche war, hatte er den Schutz seiner Kunden organisiert. Und gut daran verdient.
Heute war er dankbar für die ersten zwei Jahre im Knast in der „Zone“ zu Beginn der 1990er Jahre. Wobei er natürlich auch ein wenig Glück hatte. Er wurde nicht in eine „rote Zone“ geschafft, wo die staatliche Verwaltung das Sagen hatte, sondern in eine „schwarze“. Dort führten die professionellen Gangster das Regiment.
Stolz erzählt er den jungen Burschen aus seiner Bande noch heute von dieser seiner Universität, in der er an der “Fakultät Gesellschaftskunde” das Fach „Überleben“ studierte habe. Nie werde er vergessen, dass er sein Überleben und seine Einführung in das Gangsterleben seinem Mentor Atlas zu verdanken habe. Gott sei seiner zerschossenen Seele gnädig.
Atlas hatte einen Narren an dem jungen, anstelligen Dieb gefressen. Ussuri war ihm aufgefallen, als er im Lager geschickt einige kleine Aufträge ausführte und kein Gewese darum gemacht, keine Belohnung eingeklagt hatte. Das hatte eine sentimentale Saite in dem Alten zum Klingen gebracht: So hatte auch er einmal angefangen. Nun, da er selbst in die Jahre gekommen war, wollte er sein Wissen an einen würdigen jungen Dieb weitergeben. Und er führte Ussuri gründlich ein in die kriminelle Welt.
Atlas, der Blatnoi , brachte ihm als erstes bei, dass er auf gar keinen Fall Kontakte zur Lagerverwaltung im Konkreten und zur Staatsmacht im Allgemeinen eingehen durfte. Unterordnung galt nur für die Diebeswelt. Wie gut, dass er durch seine Leben auf der Straße und seine frühe kriminelle Laufbahn nie auch nur in die Nähe von Partei und Komsomol gekommen war. Wer einmal Mitglied gewesen war, dem blieb die Blatnoi-Welt für immer verschlossen. Egal, wie erfolgreich er im kriminellen Leben auch sein mochte.
Nach dem großen vaterländischen Krieg, nach 1945, so erfuhr Ussuri von Atlas, hatte es in den sowjetischen Lagern blutige Gemetzel gegeben. Die Traditionalisten meinten, man hätte auch in Kriegszeiten nicht mit der Staatsmacht kooperieren dürfen. Die etwas „liberaleren“ hatten in der Sowjetarmee gedient, weil sie dies im Kriegsfalle in der Stunde der höchsten Not für machbar hielten. In diesem Glaubenskrieg schlitzten sich Diebe, Räuber und Mörder gegenseitig auf. Hunderte starben, die Wachmannschaften sahen zu.
Ussuri lernte, dass ein echter Dieb auch im Straflager nicht arbeitet. Es sei denn, dass er es nur für sich tut und dabei keine Führungsposition, wie immer sie auch aussehen mochte, übernimmt. Inzwischen wurde in einigen Lagern auch der Dienst bei den Innentruppen als akzeptabel hingenommen. Auch die Gangsterwelt war, trotz ihrer strengen Regeln, einem Veränderungsprozess unterworfen. Das wollten manche aus der sturen, unflexiblen alten Garde einfach nicht begreifen. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild von Aladin auf. “Störrischer Esel”, knurrte Ussuri.
Er selbst hatte die ehernen Gesetze zunächst zutiefst in sich eingesogen. Er hatte zugesehen, wie die Blatnoi sich gegen die Staatsgewalt stellten, das Leben im Lager nach ihren Gesetzten regelten. Wie sie ihr Privileg, nicht arbeiten zu müssen, durchsetzten, sich aus dem Obschtschak nach Belieben bedienten.
Er lernte aber auch, dass sich die Autoritäten darum kümmerten, dass Lebensmittel, Tabak, Wodka, Drogen und Kleidung ins Lager gelangten. Auf illegalen Wegen, natürlich. Ihre Autorität hing auch davon ab, wie gut sie das hinbekamen.
Er bewunderte seinen Mentor Atlas, die Erde sei ihm leicht, noch heute dafür, wie er Streitigkeiten unter den Mitgefangenen schlichtete. Wie er verhinderte, dass es zu Ungerechtigkeiten oder Beleidigungen kam. Wie ein paar leise gesprochene Worte, eine gut verpackte Warnung, Differenzen gar nicht erst aufbrechen ließen. Noch immer hatte er die leise, heisere Stimme im Ohr, die Angst und Entsetzen verbreitete.
Allerdings hatte Atlas auch nie leere Drohungen ausgestoßen. Wer seinem Urteilsspruch nicht folgte, geriet schnell mal mit der Hand in eine Maschine, sah einen gefällten Baum auf sich zustürzen oder man fand ihn am Morgen mit einem Messer in der Brust wieder. Ussuri war, obwohl er sich in der Umgebung von Atlas aufhielt, erst spät dahinter gekommen, wie und wem der seine Befehle erteilte. Nach und nach bemerkte er charakteristische leichte Kopfbewegungen, ein Augenbrauenrunzeln oder auch ein leichtes Blinzeln der Augen, mit denen Atlas sein Imperium steuerte. Für Ussuri war es ein großer Schritt, vom kleinen Straßenräuber zum bewussten Mitglied der Diebeswelt aufsteigen zu dürfen. Eifrig nahm er die ungeschriebenen Gesetze der Bruderschaft in sich auf.
Als er das Lager in der Tundra verlassen konnte, war die Welt eine andere geworden. Die Banden kämpften mit harten Bandagen untereinander um die Kontrolle über Wirtschaftsunternehmen. Und jetzt gab es Tote, viele Tote. Ussuri geriet in eine wehmütige Stimmung, als er sich daran erinnerte. Da traf man sich im Café, umarmte sich, gab sich die Hände, schaute sich in die Augen und wartete, dass die Komplizen am Ausgang die Jungs anschließend niederknallen würden. Viele seiner Freunde erwischte es, seinen Bruder ermordeten sie direkt neben seinem Haus.
Aber auch er war ein anderer geworden. Streng befolgte er nach der Rückkehr aus dem Lager den Kodex. Er unterhielt nur die allernötigsten Kontakte zum normalen Leben. Er hatte keine Frau, keine Kinder, kein eigenes Haus, keine Arbeit und kein Geschäft. Loyal zahlte er seine Anteile in den Obschtschak. Sie wurde von einem angesehenen „Wor w sakonje“ verwaltet, einem Dieb, der sich ans Gesetz hält, ans Diebesgesetz natürlich.
Es sollten noch viele Jahre vergehen, ehe auch Ussuri die Ehre zuteilwurde, von den angesehensten Dieben zum „Wor w sakonje“ ernannt zu werden. Er war zur Autorität geworden, sein Rat unter Gangstern war gefragt, wenn es zu Streitfällen kam. Dabei hatte er