in einer surrealen Performance, die im nächsten Augenblick umschlagen konnte. In einer Seitenstraße rappten die Verkäufer zum Takt der Musik und brachten mit Humor und Geschick ihre Platten und Kassetten für wenige Rand an den Mann. Doch ein flüchtiger Blick unter den Tisch zeigte, dass dort Handfeuerwaffen bereitlagen. Schwarzafrikaner offerierten ihre Waren auf dem Grand Parade Market vor der City Hall, weiße Kundschaft aber war kaum zu sehen, als gehöre das Warenangebot in eine andere Welt.
Stück für Stück enthüllte sich mir die verborgene Semiotik Kapstadts und ich erkannte, dass die Lage viel heikler war, als ich angenommen hatte. In der Nähe von Banken oder Juwelieren standen scheinbar beiläufig Männer in den Hauseingängen. Erst beim zweiten Blick sah man die Schnellfeuerwaffen, die sie dicht an ihren Körper trugen. Es waren Sicherheitskräfte, die zur Stelle wären, wenn sich in ihrer Nähe ein Überfall ereignen würde. Verkehrsschilder warnten im Umkreis des Bahnhofs nicht in erster Linie vor Verkehrsübertretungen, sondern vor der Mitnahme von Speeren, Äxten und Handfeuerwaffen in den öffentlichen Transportmitteln. Und dass ein Parkplatz ein freier Platz ist, an dem man sein Auto abstellen kann, mochte für andere Städte gelten. In Kapstadt waren Parkplätze Pfründen, um die die jugendliche Banden kämpften. Als ich meinen Wagen am Nachmittag in einem Vorort von Kapstadt abstellte, traten zwei Jugendliche an mich heran und stellten sich als Mitglieder einer Parkwächter-Kooperative vor, deren Angehörige für eine kleine Gebühr die geparkten Fahrzeuge bewachten. Ganz gleich, ob die Jugendlichen selbst das Problem waren, vor dem sie mein Fahrzeug schützen wollten, oder ob sie tatsächlich sinnvolle Wachdienste leisteten – ich zögerte keine Sekunde, für diese „Service“ einige Rand herauszurücken.
Schon am späten Nachmittag, wenn sich andere Orte langsam auf ihre vitalste Tageszeit vorbereiteten, rasselten die ersten Ladengitter herab, wurden die Flohmarktstände abgebaut und die Kaufhäuser geschlossen. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit wirkte die Innenstadt wie leergefegt. Der Abendwind trieb Blätter und Papierfetzen über menschenleere Plätze. Zwei einsame Passanten an der Heerengracht beschleunigten ihre Schritte und verschwanden in einem bewachten Hoteleingang. Kapstadts Schönheit war nicht nur doppelbödig, sie war auch eine Qualität, die bei Einbruch der Dunkelheit verschwand.
„Stolz, ein Mensch zu sein“
Auf Robben Island
Niemand kann über Südafrika reden, ohne den Namen Nelson Mandela zu erwähnen. Ich selbst wuchs auf mit diesem Namen als einem Symbol für den Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit. Ich entsinne mich noch genau an die Ehrfurcht, mit der unser Politiklehrer uns Bilder eines schwarzafrikanischen Mannes mit Bart präsentierte, der völlig unschuldig in einem Staatsgefängnis saß, weil er Freiheit für sein Volk gefordert hatte. Es war übrigens eine Zeit gewesen, in der es jede Menge Helden gegeben hatte, die weit weg von Europa für die Menschenrechte kämpften. Manche sahen gut aus wie Che Guevara, manche waren wütend wie Patrick Lumumba oder klein und hunzelig wie Onkel Ho. Nelson Mandela war der einzige gewesen, der auf seinem Bild einen Anzug mit Krawatte trug. Es war der Anzug, den er getragen hatte, als er im Jahre 1964 von einem Gericht in Südafrika zu lebenslanger Haft wegen Terrorismus verurteilt worden war. Viele dieser Helden starben jung wie Che Guevara, das war noch das Beste, was ihnen passieren konnte, dachte ich, weil sie auf diese Weise stark und schön im Gedächtnis blieben. Andere kamen an die Macht und entpuppten sich als ebensolche Schlächter wie ihre Gegner. Die Geschichte Nelson Mandelas aber war anders. Er starb weder, noch kam er an die Macht. In einer sich rasend verändernden Welt saß er scheinbar für die Ewigkeit auf der Gefängnisinsel Robben Island vor den Toren von Kapstadt hinter Gittern.
Doch die Zeit seiner Gefangenschaft verging nicht umsonst. Sie entpuppte sich als eine Kraft, die den Gefangenen von Robben Island in den Augen seiner Anhänger jedes Jahr ein wenig heiliger machte – und das Erstaunlichste war, dass er sich, als er endlich aus der Gefangenschaft entlassen wurde, wirklich als Heiliger erwies und allein mit der Macht seiner Persönlichkeit den großen Machtwechsel am Kap ohne Bürgerkrieg über die Bühne brachte. Während der andere große Verbannte seiner Zeit, Ayatollah Chomeini nach seiner Rückkehr in den Iran seine Heimat in einem Meer von Blut ertränkte, entpuppte sich Nelson Mandela nach seiner siebenundzwanzigjährigen Haft als ein Genie der Versöhnung, als die wahrscheinlich moralisch herausragende Gestalt des Jahrhunderts.
Über ein Menschenalter war vergangen, seitdem Nelson Mandela Robben Island verlassen hatte. Flach und unscheinbar lag die kleine Insel in der blauen See, als hätten nicht jahrzehntelang die Augen der Welt auf ihr geruht. Die Insel befand sich nur sieben Kilometer vom afrikanischen Festland entfernt und war gerade mal fünf Quadratkilometer groß, der ideale Ort für eine Sträflingsinsel, weil die starken und eiskalten Strömungen in der Bucht jede Flucht unmöglich machten. Während der Überfahrt hielt ich die Hand in das Wasser. Es stimmte: Robbentemperatur, nichts für Menschen. Zwei Dutzend Touristen, Franzosen, Briten, Deutsche, Niederländer befanden sich an Bord einer kleinen Fähre, die die Besucher in einer knappen halben Stunde zur Insel brachte.
Das erste, das wir bei unserer Ankunft auf Robben Island erblickten, war eine watschelnde Schar von Brillenpinguinen, die sich wie ein Begrüßungskommittee unterhalb des Kais versammelt hatte. Brillenpinguine waren die einzigen Pinguine Afrikas. Sie waren klein und kompakt, gerade mal 65 Zentimeter hoch, besaßen die charakteristischen Ralleystreifen an den Seiten und gehörten zu den schnittigsten Varianten ihrer Art. Leider hatten sie das Pech, so gut zu schmecken, so dass sie beinahe ausgerottet worden wären, ehe man sie unter Artenschutz gestellt und für sichere Nistplätze gesorgt hatte. Die Brillenpinguine von Robben Island waren darüber nicht informiert, sie wussten noch nichts von der Schlechtigkeit der Welt, waren zutraulich und liefen eine Zeitlang um uns herum, ehe sie wieder im Unterholz verschwanden.
Gleich am Ufer warteten zwei Bedienstete des Nationalparks mit ihren Kleinbussen. Sie fuhren uns über die Insel, zuerst vorbei am Friedhof und den Überresten einer alten Leprakolonie, dann vorüber an der Grundschule, die für die Kinder der Inselbewohner eingerichtet worden war.
Unser Fahrer, ein junger Mann mit großem Mund und Riesenzähnen, ratterte derweil die Eckdaten der Inselgeschichte wie auswendig gelernt herunter, nannte die Namen tapferer Zulukrieger, die im kalten Wasser ertrunken waren und bedauernswerter Leprakranker, die auf der Insel den Tod gefunden hatten. Er war einer von einhundertachtzig Inselbewohnern, die samt und sonders im Dienst des Robben Island Museums und des Naturschutzes standen - und er war stolz darauf, aus der Transkei zu stammen, ebenso wie „Tata“, „der Vater“, womit Präsident Mandela gemeint war.
Im Gefängnis angekommen wurden wir einem zweiten Guide übergeben, der uns am Tor erwartete. Er stellte sich als „Mr. John“ vor, trug eine Uniform, die ihm um den schmalen Körper schlotterte, hatte schlohweißes Haar und einen Gesichtsausdruck, der zwischen Melancholie und Warmherzigkeit schwankte. Als ehemaliger Insasse von Robben Island, so begann er, freue er sich über unser Interesse. Er sprach langsam und akzentuiert und führte uns in den Innenhof des Gefängnisses.
Wer denn den Namen Nelson Mandela schon einmal gehört habe, fragte er. Alle hoben die Hand. Und wer kannte seinen Geburtsort? Niemand meldete sich. „Nelson Mandela wurde am 18. Juli 1918 in Mvenzo im Distrikt Umtata geboren“, erklärte Mr. John mit erhobener Stimme. „Er entstammte einem königlichen Xhosa-Geschlecht, er war also ein vornehmer Mann. Später wurde er ein Anwalt, der die Interessen des Volkes vertrat.“ Als die Weißen im Jahre 1948 mit dem Aufbau der „großen Apartheid“ begannen, war Mandela dreißig Jahre alt und bereits ein Mitleid des ANC, des African National Congress´, der sich für die Gleichberechtigung der „Blacks“ und auch der „Coloured“, d.h. der Inder und Malaien, einsetze. „He did it always peaceful“ (Er machte es immer friedlich“) behauptete Mr. John, was so nicht ganz stimmte, denn Mandela hatte sich in den frühen Sechziger Jahren, als die Unterdrückung der schwarzafrikanischen Bevölkerungsmehrheit immer unerträglicher geworden war, für den bewaffneten Widerstand ausgesprochen. Er