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Von Plettenberg aus führte die Straße weiter nach Osten. Kurz vor dem Tsitsikamma Nationalpark stoppte ich an der Bloukran Brücke, der mit 216 Metern höchsten Brücke Südafrikas. Die mächtige Bogenkonstruktion, die dem Reisenden hoch über dem Meer freie Fahrt gestattete, war landesweit bekannt als Absprungrampe für einen der höchsten Bungee-Jumps der Welt. Wenn man den Plakaten glauben durfte, dann rangierte der Sprung von der Bloukran Brücke mit ihrer Höhe von 216 Metern nach der Royal George Bridge in Colorado (321 Meter) als zweithöchster Absprungplatz der Welt. Bezog man Fernsehtürme und Staudämme als Absprungorte mit ein, dann belegte die Bloukran-Brücke immerhin weltweit auch noch den vierten Rang. Dementsprechend war der Andrang. Die Wartezeit von der Buchung eines Sprungs bis zum Sprung betrug zur Zeit etwa zwei Stunden. Obwohl Klienten über sechzig umsonst springen durften, waren es ausschließlich junge Leute, die ein Ticket kauften, und bezeichnenderweise waren in den wartenden Gruppen immer diejenigen ganz gut zu identifizieren, die einen solchen Sprung wagen wollte und jetzt nicht mehr zurückkonnten.
Aus Sicherheitsgründen war der Absprungort in der Brückenmitte abgesperrt, nur die Springer und einige Begleiter durften zur Rampe, die anderen mussten das Ereignis vom Rand der Schlucht aus beobachten. Soweit ich erkennen konnte, dauerte die ganze Prozedur pro Sprung etwa zwanzig Minuten. Der Springer wurde von zwei Betreuern begrüßt und eingewiesen. Dann wurden ihm die Beine reißfest zusammengebunden und mit dem elastischen Bungee-Seil verbunden. Solchermaßen gesichert hoppelte der Klient wie ein Sackhüpfer auf die Rampe und sprang. Manche breiteten die Arme auf und sprangen in dramatischer Pose in die Tiefe, manche ließen sich einfach fallen, und wenn ich mich nicht versehen habe, wurde ein besonders Zögerlicher mit einem kurzen Body Check auf die Reise befördert.
Der Sturz selbst war eine Sekundensache. Der Springer fiel wie ein Stein, das Seil spannte sich, und schon schnellte der Bungee-Jumper bereits wieder in die Höhe und schwang dann am Seil aus. Ein Mitarbeiter des Bungee Teams wurde von oben heruntergeseilt, um dem Klienten beim Hochziehen zu assistieren. Oben wurde der Springer dann von seinen Begleitern mit Klatschen und Händeschütteln empfangen, und schon kam der Nächste an die Reihe.
Wenige Kilometer hinter der Bloukran-Brücke führte ein Stichstraße zum Eingang des Tstitsikamma Nationalparks. Der etwa achtzig Kilometer lange Park war eine wildromantische Küstenlandschaft, deren Berge sich Hunderte von Metern unmittelbar aus dem Ozean erhoben.
Schon bei der Fahrt vom Parkeingang zum Besucherzentrum an der Küste verblüffte der undurchdringliche Bewuchs einer der ältesten Primärwälder Afrikas. So sehr die Portugiesen, Buren, Engländer und Eingeborenen auch das Holz an der Küste geschlagen hatten, in die bis vor einigen Jahrzehnten völlig abgelegenen Bezirke der Tsitsikamma-Küste hatten sie es nicht geschafft - ein Stück Urzeit war erhalten geblieben, und erst mit der Gründung es Tsitsikamma Nationalparks im Jahre 1964 war diese Region der Öffentlichkeit erschlossen worden.
Eine der Hauptattraktionen des Parks war der sogenannte „Big Tree“, dem mit einer Höhe von 37 Metern und einem Umfang von neun Metern größten Yellowood Baum an der Tsitsikamma-Küste. Er konnte zwar weder mit dem Tane Mahua, dem „Herrn des Waldes“ in Neuseeland mithalten und schon gar nicht mit den riesigen Sequoia Tannen und Redwoodbäumen Nordamerikas, aber sympathisch an ihm war, dass als riesige Steineibe der größte Bruder all der kleinen Topfpflanzen war, die unsere Wohnzimmer schmücken. Ich umschritt ihn dreimal, legte meine Hand an seine Rinde und spürte, wie feucht sie war. Für ein Alter von 800 Jahren stand der Big Tree noch ganz schön im Saft.
Das Zentrum des Tsitsikammaparks befand sich an der Mündung des Storms Rivers. Mit ungeheurer Kraft krachten hier die mächtigen Brecher des Indischen Ozeans auf die Klippen. Feuchte Nebelgischt stieg vom Meer auf und umwaberte die dichten Wälder der aufsteigenden Berge. Ich ging so nahe wie möglich an den Rand des Ozeans heran und versuchte, die Elemente der Imposanz zu verstehen: Es war eine Felsenküste, die der Kraft des Ozeans widerstand, und deren Unverrückbarkeit das Meer zu erzürnen schien. Welle auf Welle brach sich am Stein, fraß sich ins Land und würde am Ende obsiegen. Denn die Zeit war immer auf Seiten des Ozeans, wenngleich in unvorstellbaren Intervallen, in denen er das Land hob und senkte, formte und verschlang. In dem Wimpernschlag der Erdgeschichte, in dem ich mich gerade an dieser Küste aufhielt, hatte die Küste die Gestalt eines Dschungels angenommen, durch die sich die Besucher bewegten, als seien sie nur Gäste in einem Park aus vormenschlichen Zeiten. Tatsächlich existierte am Ufer des Storms-River eine sogenannte Strandloiper Grotte in denen Überreste der Khoisan gefunden worden waren, die die Küste lange vor der Ankunft der Weißen und der Bantus besucht hatten.
Je tiefer ich in den Wald eindrang, desto bemooster wurden die Baumrinden. Bartflechten hingen von den Zweigen herab, rund um die Stämme vermoderten Gräser und Blätter. Die Kronen der Yellowwood Bäume mit ihren meterdicken Stämmen verloren sich im Dunkel des Waldes. Mitunter schlossen sich die Baumkronen wie Dächer über den Wegen, dann wurde es dunkel, und nur das Glucksen des allgegenwärtigen Wassers war zu hören.
Eine beachtlich schwankende Hängebrücke führte über den Storms River auf die andere Seite des Flusses zu einem Aussichtspunkt. Im Angesicht der stürmischen Küste, so nahe am Tosen des Ozeans, benetzt von der salzigen Gischt, die als Nebel die Küste emporstieg und bedrängt vom überbordenden Wald in meinem Rücken empfand ich die Unmittelbarkeit der Elemente wie einen Schock. Es kam mir so vor, als würde ich über einen Abgrund gehalten, als erlebe ich in der engen Verklammerung von Ozean, Dschungel und Berg eine Art Urszene mit all ihren archetypischen Ängsten vor einer übermächtigen Natur.
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Langsam näherte sich meine Reise über die Gartenroute ihrem Ende. Mein letzter Stopp vor Port Elisabeth war Jeffreys Bay, ein Ort an einer flachen Dünenküste, die unter Surfern für ihre Wellen berühmt war. Ich notierte: die höchste Brücke, der dickste Baum, die längste Welle, die Gartenroute ist eine Region der Superlative.
Meine Unterkunft in Strandnähe war einfach und überteuert, denn es war Surferzeit, und die ganze Stadt war voller junger Leute, die nichts anderes im Sinn hatten, als den lieben langen Tag auf möglichst hohen Wellen zu reiten. Beim Frühstück in einem schmucklosen Kantinenraum mit Fensterblick zum Strand lauschte ich den Fachgesprächen an den Nebentischen, locker dahingeworfenen Bemerkungen über Sweel, Bottom Turn, Line in und Interlupe und bewunderte die heldische Aura von Kraft und Gesundheit, die von den jungen Männern und Frauen ausging. Viele „ Locals“ (so nennt man die Surfer, die an ihrem Heimatstrand surfen) waren anwesend, aber auch viele Surfer aus den USA und Europa, unter ihnen einige Farbige und Ostasiaten.
Jack, ein junger Südafrikaner aus Durban setzte sich an meinen Tisch und erzählte dass ihm sein Surfbrett gestohlen worden sei. Das sei ein Jammer, weil gerade jetzt die Wellen besonders gut seien. Dem stimmten zwei Kalifornier zu, die sich zu uns an den Tisch gesellten. Sie stammten aus Huntington Beach zwischen Los Angeles und San Diego, einem Ort, der für jeden Surfer offenbar als allererste Adresse galt.
„Was hast du denn für ein Surfbrett?“ fragte mich einer der Kalifornier.
„Ich besitze kein Surfbrett. Ich surfe nicht.“
„Ja, was machst du denn in Südafrika?“ fragte Jack
„Reisen“
„Reisen, wohin?“
„Einfach weiter“, gab ich zurück
„Einfach weiter“, lachte einer der beiden Kalifornier, „bis die Welle bricht.“
Gutmütiges Schmunzeln allenthalben. Ein nichtsurfendes Unikum hatte es nach Jeffreys Bay verschlagen wie einen Hasen in einen Fuchsbau. Ein solcher Mensch war zwar zu bedauern, verdiente aber Nachsicht. Und vielleicht die eine oder andere Erklärung, was das Surfen betraf.
Als ich am Nachmittag mit Jack am Strand