Der Erzähler schwieg, und starrte trüben Blickes nach der angedeuteten Stelle hinüber. Wir ehrten dieses Schweigen, indem auch wir nichts sagten. Erst nach einer längeren Weile fuhr er fort:
»So wurde ihm das Gold, welches er uns schenkte, durch eine Kugel vergolten. Wir haben die Schlucht den Mistake-Cañon genannt, und dieser Name ist ihr bis auf den heutigen Tag geblieben. Man hat die Geschichte oft in meiner Gegenwart erzählt; nie aber ist es mir eingefallen, zu sagen, daß ich selbst der unglückliche Held derselben bin. Ich habe das im stillen mit mir abzumachen versucht. Heute jedoch, da wir uns an derselben Stelle befinden, soll es einmal vom Herzen herunter, und ihr mögt mir nun sagen, ob man mich einen Mörder nennen kann.«
»Nein, nein!« rief es rundum. »Du bist vollständig unschuldig. Aber wie ist's mit dem Comantschen? Er entkam?«
»Nein. Wir fanden ihn gar nicht weit von hier im Steingeröll, wo das Pferd gestrauchelt war und ihn abgeworfen hatte. Ihr könnt Euch denken, daß es da anstatt einer Leiche zwei gegeben hat. Das ist das Gesetz des wilden Westens; sprechen wir nicht darüber!«
»Und das Gold, die Nuggets! Wir wollen natürlich wissen, welche Schätze Ihr damals aus dem Cañon mitgenommen habt!«
»Weit weniger als der vortreffliche Anfang vermuten ließ. Es war, als habe ein Racheengel das Gold tief ins Erdinnere verschwinden lassen. Seit meine Kugel den Apatschen traf, wurde die Ausbeute von Tag zu Tag geringer, bis sie endlich ganz aufhörte. Wir gruben und arbeiteten noch wochenlang, doch vergeblich. Und was wir mitnahmen, das hat nicht lange vorgehalten; es ist bald alle geworden – beim Wein und beim Spiel. Nur eins ist mir geblieben und wird mich bis an mein Ende nicht verlassen, nämlich die Erinnerung an den Augenblick, da mein Blei den Roten vom Pferde riß. Dieses Bild schwebt mir immer und immer vor, und dazu gellt mir im Ohr der Todesschrei. Es schüttelt mich. Kommt, wir wollen fort! Ich mag den Ort nicht länger sehen!«
Er stand langsam und schwer auf und schüttelte sich, als ob er der bisher auf ihm gelegenen seelischen Last ledig werden wolle. Als er dann mit der Hand nach dem Zügel griff, um aufzusteigen, hielt ich ihn zurück und sagte:
»Eure Kameraden haben schon ihre Meinung ausgesprochen, daß Ihr unschuldig seid; nun hört auch, was ich sage, Mr. Hawley.«
»Nun?« fragte er in einem Tone, als ob er auch von mir nicht die geringste Erleichterung erwarte.
»Ich will Euch eine Geschichte, eine wahre Geschichte erzählen, die sich drüben in Deutschland, meiner Heimat, zugetragen hat.«
»Was kann mir Eure deutsche Geschichte nützen?«
»Vielleicht doch etwas; hört sie nur an! Zwei Schieferdecker hatten auf der Spitze eines sehr hohen Kirchturmes eine neue Wetterfahne anzubringen; die dazu nötigen Leitern waren Tags vorher angelegt worden, ehe man die alte Fahne abgenommen hatte. Der eine Schieferdecker war ein alter, erfahrener Meister, der andre sein Sohn, der eine Frau und vier Kinder hatte. Sie stiegen höher und höher, von Sprosse zu Sprosse, der Alte voran, der Sohn hinterdrein, beide mit einer Hand sich festhaltend und mit der andern die schwere Wetterfahne tragend. Unten stand eine Menschenmenge, um lautlos, mit stockenden Pulsen und selbst fast schwindelig, der waghalsigen Arbeit zuzuschauen. Da hört man oben einen Schreckensruf erschallen; der Sohn hat ihn ausgestoßen; der Vater antwortet ruhig und ermahnend; der Sohn ruft wieder, und gleich darauf stößt die Menge einen einzigen, vielstimmigen Schrei des Entsetzens aus, denn der Alte hat den Sohn, der ihn am Fuße faßte, mit einem kräftigen Tritte von der Leiter geschleudert, so daß er in die grausige Tiefe stürzt und dort zu einem wirren Haufen von Fleisch und Knochen zerschellt.«
»Ist so etwas möglich! Der Mörder seines eignen Sohnes!« rief Hawley aus.
»Nicht vorschnell, Sir; hört weiter! Unten am Turme giebt es natürlich Scenen einer Aufregung, welche nicht beschrieben werden können; oben aber steigt der Alte weiter in die Höhe, die Fahne nun allein tragend. Bei der Spitze angekommen, stellt er sich auf den Knopf und steckt die Fahne mit einer unglaublichen, wahrhaft riesigen Anstrengung aller seiner Kräfte auf die Spindel. Dann kommt er so ruhig und kaltblütig, als ob nichts geschehen sei, langsam und sicher wieder herabgestiegen, Leiter um Leiter über sich von den Haken lösend und in die Dachfenster des Turmes schiebend, bis er im Schallloche der Glockenstube verschwindet. Vor der Turmthür wartet die wütende Menge, bereit, ihn zu lynchen; er kommt aber nicht. Man dringt in den Turm und findet ihn oben in der Glockenstube, wo er in dem Augenblicke, in dem er den festen Boden unter sich gefühlt hat, besinnungslos zusammengebrochen ist. Er wird nach Hause gebracht und erwacht nur, um im hitzigen Fieber monatelang von dem entsetzlichen Momente zu phantasieren, wo er gezwungen gewesen ist, seinen Sohn in den entsetzlichen Tod zu stürzen. Die Kunst der Ärzte und seine trotz des Alters kräftige Natur retten ihn; aber sobald die Beine noch kaum imstande sind, ihn zu tragen, geht er auf das Gericht, um sich dem Staatsanwalte zu überliefern. Was glaubt Ihr wohl, wie das Urteil gelautet hat, Mr. Hawley?«
»Wie soll es gelautet haben! Es giebt hier nur eine Strafe: für Sohnesmord den Tod,« antwortete der Gefragte.
»Ist das wirklich Eure Meinung, Sir?«
»Natürlich. Man kann ja gar keine andre haben.«
»O doch!«
»Nein. Er hat seinen Sohn mit voller Absicht in den Tod gestoßen.«
»Nicht etwa in der Aufregung?«
»Schließt das die Absicht aus?«
»In diesem Falle wohl nicht. Aber der Fall läßt sich noch ganz anders beurteilen.«
»Möchte doch wissen, wie!«
»Er erregte natürlich ungeheures Aufsehen und wurde überall besprochen, mündlich und auch in den Zeitungen. In juristischen Kreisen war man der Ansicht, daß die Anklage wegen Mordes unbedingt aufrecht zu erhalten und der Alte unbedingt zu verurteilen, dann aber der Gnade des Monarchen zu empfehlen sei. Das Publikum verweigerte dem Thäter zunächst jede Entschuldigung, lernte aber gar bald, als es die Gründe seines Handelns erfuhr, anders denken. Ja, er hatte die That mit Überlegung begangen, aber was hatte ihn dazu veranlaßt? Der Sohn hatte ihm plötzlich zugerufen, er sei vom Schwindel ergriffen worden, so daß sich alles um ihn zu drehen scheine. »Mach die Augen zu, und halte dich fest, bis es vorüber ist; ich warte!« mahnte ihn der Alte, der an einen kurz vorübergehenden Anfall dachte. »Ich kann nichts festhalten; ich fühle nichts,« schrie der Sohn, indem er die Fahne fahren ließ und den Fuß des Alten ergriff. Dieser erkannte mit Schaudern, daß es kein Warten und kein Vorübergehen gab; es war einer jener Anfälle, die den Betreffenden vollständig entmannen, in denen Hilfe unmöglich ist; der Helfer wird nur selbst mit ins Verderben gezogen. In einem einzigen kurzen Augenblicke vergegenwärtigte er sich seine fürchterliche Lage. Die schwere Wetterfahne in der Linken, mußte er sich mit der Rechten festhalten; am Fuße hatte er den Sohn hängen; er fühlte die zentnerschwere Last, die ihn von der Leiter weg und in die Tiefe ziehen wollte; er wußte, daß er dies nur wenige Augenblicke aushalten könne und dann mit hinab müsse. Ja, hätte er unter dem Sohne gestanden, so hätte er ihn stützen und vielleicht, vielleicht doch retten können, so aber war dieser unbedingt verloren. Sollte der verhängnisvolle Schwindel zwei Menschenleben kosten anstatt nur eines? Sollte die arme Familie außer dem einen Ernährer auch noch den zweiten verlieren? War es nicht Selbstmord, sich mit hinabreißen zu lassen, wo er sich doch, freilich nur sich allein, halten konnte? Da rief der Sohn: »Herrgott, ich fühle die Leiter nicht mehr; ich stürze, ich falle!« Er hing nur noch am Fuße des Vaters. Da erkannte dieser, daß das Gräßliche nicht zu umgehen sei, daß es geschehen müsse; er stieß den Sohn mit einem kräftigen Tritte von sich ab und von der Leiter. Er hörte den vielstimmigen Schrei der Zuhörer; er sah nicht hinab; es flimmerte ihm vor den Augen; sein Herz wollte stillstehen; aber er mußte stark bleiben und raffte sich mit Aufbietung aller seiner Kräfte zusammen. Wie im Traume, in einem Zustande seelischer Stumpfheit stieg er empor und vollendete seine Aufgabe. So stieg er dann auch wieder herab und barg die Leitern, eine nach der andern; aber sobald er sich dann in der Glockenstube