Auch uns scheint Mitschuld an diesem Versäumnis zu treffen, denn wir mußten wissen, wie unzulänglich das Urteil der Literarhistoriker ist; es wäre längst unsere Pflicht gewesen, sich nicht auf die flüchtig ablehnenden Sätze der professionellen Kunstrichter, die diesen Roman als langweilig, als mißlungen und unlesenswert abtaten, zu verlassen. Aber zu unserer Rechtfertigung muß daran erinnert werden, wie sehr verschollen dieses sonderbare Buch durch alle die Zeit gewesen ist, ja daß es sogar längst zu den Unmöglichkeiten geworden war, sich zu einem nennenswerten Preis ein Exemplar der ersten – und einzigen – vollständigen Ausgabe anzuschaffen. In den Friedenszeiten fragte ich bei einem Buchhändler danach. Er nannte mir (zu Friedenszeiten!) 200 K (vollwertige Friedenskronen) als Preis, eine Summe, für die man noch damals eine kleine Bibliothek erstehen konnte. So ließ ich ab. Als aber vor einem Jahre, ebenfalls in einer schönen Ausgabe der Insel, der andere Roman Stifters ›Der Nachsommer‹ erschienen war und mir in wirklicher Erschütterung das ungeheure Unrecht, das auch an diesem Werke begangen worden war, aufging, versuchte ich meine Anstrengung auf das neue. Aber nun war es überhaupt nicht mehr zu haben, – verschollen, verloren, eingesargt war es für alle, die es suchten.
Nun aber ist es auferstanden, das einst dreibändige Werk, das die Insel in einen einzigen Band von etwa tausend Seiten zusammenschließt, und ich habe es gelesen, mit ebensogroßer Freude, als ich ihm innerlich mit Angst genaht war. Denn immer und immer konnte ich es mir nicht vorstellen, daß fünfzig Jahre, in denen klare, einsichtige Menschen lebten, ein wirklich wertvolles Buch so hätten hinfallen lassen können. Ich begann mit mehr Pietät als Erwartung, einzig sicher, durch den wasserhellen, durchscheinenden, diesen klarschmeckenden und kühl rollenden Prosastil Stifters schon allein für eine vermutete Langeweile der eigentlichen Darstellung entschädigt zu sein. Und wie sonderbar: nach den ersten fünfzig und hundert Seiten spürte ich eine Welt. Ganz neu, ganz rein erstand eine Welt der Vergangenheit, blank wie in einem Traum bewahrt, ein Land, eine Nation, eine Zeit, Böhmen, das ganze mittlere, nördliche, südliche Böhmen mit seinen Bergen, Flüssen und Städten und Sitten und Menschen. Das war nicht mehr der kleine, liebliche Winkel von Oberplan, von dem wir jede Tanne zu kennen glaubten und jede Mulde, jeden Baumschlag im Grünen und jeden aufragenden Berg – hier tat sich ein ganzes Reich auf, frühslawisches Mittelalter mit alten Recken und wunderlich bäuerlichen Menschen, eine Welt der Kämpfe und der Gestalten, sagenhaft schön, bildlich nah und magisch fern. Hier war Geschichte mit einemmal gebildet und lebend geworden, und ich kenne keinen historischen Roman, der auf eine so lautere, reine Art Geschichte in Dichtung zu verwandeln wußte als diesen. Bei Stifter gibt es ja keine Einleitung, keine schwulstigen Abhandlungen, er rahmt nicht seine Menschen um irgendwelche mittelalterlichen Attrappen hin. Er läßt sie nur miteinander sprechen, und da erzählt etwa in einer Ratsversammlung irgendein alter Adeliger, wie das Reich an die Fürsten kam, ein anderer erwidert ihm, und so flicht sich wie an einem Teppich Bild an Bild allmählich die ganze Zeit zu einem ungeheuren Gobelin zusammen, der eine weite Fläche von Jahrhunderten ruhend bewegt überspannt. Ich weiß nicht, ob die tschechische Nation irgendwo in ihrer Nationalliteratur eine ähnliche bildhafte Beschreibung der Belagerung von Prag hat, und eine Darstellung ihrer Schlachten. Ich glaube auch nicht, daß in irgendeinem historischen Roman mit ähnlicher Leichtigkeit die Bindung zwischen dem österreichischen, dem deutschen und dem böhmischen Land, also dem Herzen Europas, so zu innerem Ausdruck kam. Hier ist eine Welt, eine Zeit mit unendlicher Einheit gestaltet, ganz als Vision und doch wahrscheinlich, dokumentarisch treuer, als alle die künstlichen Nachbildungen es sonst ermöglichen.
Daß dieser Roman von Stifter ist, verleugnet er übrigens nirgends in seiner wesentlichen Eigenheit. Auch hier sind die Menschen alle rein und gut, die Landschaft ohne Harm und voll Freundlichkeit – hier wie immer hat der einsame bittere Landesschulrat in Linz, wenn er verdrossen nachmittags aus seinem Büro nach Hause kam und sich an seinen Schreibtisch setzte, sich eine reine Welt, eine ganz einfältige, gütige, nicht die wahrhaftige, in Gut und Böse zerspannte und zerrissene, umgeträumt. Und nirgends wird auch dieser Roman wahrhaft aufregend: bei Stifter gibt es ja keine starke Spannung, keine Entladung und Explosion, kein Feuerwerk der Leidenschaft, weshalb man ja immer geneigt ist, ihn langweilig zu nennen. Aber ich glaube, dies ist nur eine Frage des musikalischen Empfindens, ob man Stifter zu lesen weiß oder nicht. Wer aber die Fähigkeit hat, sich diesem reinen, sanft melodischen, nie aber in seinem Takt auch nur für eine Sekunde stockenden Stil mit der Seele ganz hinzugeben, der gleitet nicht nur durch die schmalen Wasser seiner Novellen, sondern auch den breiten Strom seiner Romane hin, wie in einem Traum: man spürt keine Zeit, man spürt keine Müdigkeit. Es gleitet sich gut, und immer neue Bilder fließen in immer neuen Landschaften vorbei, und immer ist unter einem das sanfte Getragensein von leiser Musik. Über Stifter läßt sich nicht streiten, es ist eine Frage des Gefühls, des Empfindens, eines besonderen künstlerischen Sinns. Wer diesen aber hat, dem wird Stifter nie großartiger erschienen sein als in seinen wahrhaft großen, solange verkannt gebliebenen Romanen, dem ›Nachsommer‹ und dem ›Witiko‹, wo er sich nicht, wie die Törichten so lange meinten, als eine Art österreichischer Theodor Storm oder Paul Heyse erweist, sondern nur mit Goethes lautersten Prosawerken, dem ›Wilhelm Meister‹ und den ›Wahlverwandtschaften‹ in sprachlicher Kunst und reiner Ruhe verglichen werden kann.
Was uns aber noch besonders ergreifen muß, ist jenes alte Österreichertum, darin jenes vor fünfzig Jahren, das nun wieder (typisch genug) gleichzeitig mit ihm zu Ehren kommt. Jenes Österreich, das den Nationalismus noch nicht erfunden hatte, wo der Dichter, in welcher Sprache er immer schrieb, alle Landschaften des Reiches mit gleicher Liebe, alle Völker mit gleicher Achtung nahm. So hat Grillparzer in der ›Libussa‹ die Tschechen mit der Neigung verwandter Geister geschildert, so schafft Stifter – was wir jetzt erst entdecken – derselbe Stifter, den man nachher schon absondernd in der Zeit des Nationalismus einen »Deutschböhmen« nannte, das ungeheure Freskobild des ganzen Böhmen, seiner tschechischen und seiner deutschen Brüder, die hier noch in der innigen Waffenbrüderschaft zusammenwirken. Kein Wort in diesem Roman, das irgendeinen Unterschied machte in der Landschaft oder in den Menschen, in den Sitten oder Gebräuchen – mit einer Feder, mit einem Atem zeichnet der Dichter in beiden Sprachen gleiche Liebe und gleiche heimische Welt. Nur aus diesem verschollenen österreichischen Geist konnte ein solches heute zeitungemäßes Wunder geschehen, daß eine Nation das Heldengedicht ihrer Jugend, diesen ›Witiko‹, aus den Händen einer andern Sprache empfing, und vielleicht klingt unsere Zeit der gewaltsamen nationalen Abgrenzung wieder bald so sehr ab, daß wir das andere Wunder noch erleben: wie die tschechische Nation dem Dichter Adalbert Stifter, der in deutscher Sprache geschrieben und in dieser deutschen Sprache die Ilias der tschechischen Nation geschaffen, ein Denkmal des Dankes und der Liebe in ihrer Hauptstadt Prag setzt.
Jeremias Gotthelf und Jean Paul
Nachdem wir nun Jahr um Jahr in neuer Sturzflut die Gesamtausgaben ausländischer Erzähler in drei-, vier- und fünffacher Gleichzeitigkeit von allen deutschen Verlegern dargeboten bekamen, nachdem Dostojewski und Balzac und Flaubert und Zola und Maupassant und Gogol mit vielen anderen kleineren die Bibliotheken und Buchläden füllten, kommen nun spät und nachzüglerisch endlich zwei große Epiker deutscher Sprache an die Reihe, Jean Paul und Jeremias Gotthelf. Sie waren beide sehr lange und sehr weit in Deutschland berühmt, waren beide sehr lange und sehr radikal vergessen worden, so daß man schließlich die Antiquariatskataloge absuchen mußte, um nur eine halbwegs brauchbare Ausgabe von diesen einstigen Lieblingen der deutschen Nation zu finden. Nun, nach so vielen anderen Experimenten und Versuchen sind auch sie uns endlich wieder entdeckt, diese beiden Abseitigen, der Pfarrer aus Lützelflüh und der romantische Träumer aus Wunsiedel. Den einen, Jean Paul, bietet eine sehr kompakte und doch gleichzeitig schöne Ausgabe von Eduard Berend im Propyläen-Verlag in fünf wuchtigen Bänden dar, den anderen, Gotthelf, verheißt uns der Verlag Eugen Rentsch in Erlenbach in der Ausgabe von Dr. Rudolf Hunzinger in 26 Bänden, von denen bisher 11 gleichfalls in sauberster Ausstattung und angenehmstem Druck vorliegen. Sie haben beide lange warten müssen bis zu ihrem neuen Weg in die deutsche