Veronika Beci
Möwe und Pflaumenbaum
Ein Fetzenbuch
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
*
Für mich gibt es keine Kapitel mehr. Nur noch Fetzen von Gedanken. Einer reiht sich sinnlos an den anderen. Einzelne Sätze. Umherfliegende Worte, abgerissen von ihrem Textbaum. Erinnerungen, und vielleicht das Jetzt, verweben sich tückisch miteinander.
Die jämmerlichen Versuche angehender Mediziner, eine Braunüle zu legen und Blut abzunehmen. Blut auf dem Bett. Erst Tropfen, dann eine Lache. Die Krankenhausschwester übernimmt eilig, während dem jungen Arzt die Hände so stark zittern, dass er es nicht mehr verbergen kann. Ich schließe meine Augen wieder.
Ich bin so unendlich müde und das gebrochene Bein macht mir zu schaffen. „Ein komplizierter Bruch. Eine Gehirnerschütterung“, hatte der Oberarzt bei der letzten Visite referiert: „Und dennoch können Sie von Glück sagen, dass Ihnen nicht mehr passiert ist.“ Er hatte mich beinahe vorwurfsvoll angesehen, als er orakelt hat: „Es war ein schwerer Autounfall.“
Ich weiß nichts von einem Unfall. Ich bin nur schrecklich müde. Manchmal erscheint mir alles um mich her wie in einem bizarren Traum. Darin begegnen mir seltsame Gestalten, manchmal scheinbar Vertrautes. Ich schwöre, ich habe eine Frau an meinem Bett sitzen sehen, sonderbar bleich. Sie sah aus wie ich, ehe sie sich in eine widerwärtig kichernde Spinne verwandelte. Ich träume und kann nicht schlafen.
Großmutters Pflaumenbaum.
Jemand hat mir das Notizbuch und die Stifte ans Krankenbett gebracht. Ich weiß aber nicht, wer. Ich muss weiße Blätter beschreiben. Ich muss. Ich kann sie nicht weiß und nichtssagend lassen. Wie damals, als Kind, im Winter – ich konnte dem frisch gefallenen Schnee nicht widerstehen – ich musste meine Spuren hinein graben.
Ich sehe aus dem Fenster auf den Oktobermond. In de schemering, die als een doorzichtige, askleurige mist neerzonk.
Eine alte Frau wird zu mir hereingefahren. Die alten Frauen werden hereingefahren und verschwinden nach einiger Zeit. Sie sind mir gleichgültig. Ich möchte mit niemandem sprechen. Großmutter! Den Krankenschwestern, die immerzu betont munter das Zimmer durchsegeln, habe ich die Fröhlichkeit ausgetrieben. Ich lächle ihr Lächeln nicht zurück.
*
„Es war Besuch für sie da“, versucht eine Schwester zu lächeln und nickt in Richtung eines Blumenstraußes, der plötzlich neben mir auf dem Nachtschränkchen wächst. Gerbera, mit Chrysanthemen zur Üppigkeit aufgefüllt, wurzeln in einer hässlichen, weißen Krankenhausvase. „Sie haben fest geschlafen. Die Dame ist wieder gegangen.“ Sie erwartet irgendeine Reaktion von mir. Ich betrachte kalten Blickes die Blumen. Schließlich zuckt die Schwester mit den Schultern und wendet sich zum Gehen. „Ich möchte niemanden sehen. Ich wünsche keinen Besuch“, schnauze ich ihren Rücken an. Knalle ihr die Worte zwischen die Schultern.
Der nächtliche Kot alter Frauen.
Die Polizei schreibt ihren Bericht über den Unfall. „Klare Sache“, sagen sie: „Die Schuld liegt bei dem Fahrer, der das Boot nicht ausreichend gesichert hatte, sodass es sich löste und Ihnen auf die Motorhaube gerutscht ist.“
Die Müdigkeit. Morpheus und … ich weiß nicht