Dann begann auch sie Toilette zu machen.
Ruh ist im Land! Nun, darüber konnte man verschiedener Ansicht sein. Aus dem Kinderzimmer erklang ohrenbetäubender Krach. Hansi hatte den Stiefelknecht erwischt und ging damit auf die Fliegenjagd. Er war gerade ein so wilder Strick, wie es einst sein Onkel Klaus, dem er auch äußerlich recht ähnlich sah, gewesen war.
Klapp – – klapp – – – »Hansi, du wirst noch was entzweischlagen.« Das war Vronli, die stets die Große herausbiß.
Klapp – klapp –. »Au – – Wehweh – – –.« Gellendes Jammergeschrei ließ Annemarie, die gerade dabei war, die Flut ihrer Goldhaare zu bürsten, erschreckt Kamm und Bürste hinwerfen und in die Kinderstube stürzen.
»Was ist denn los, Kinder?«
»Wehweh – Lein-Usche Wehweh«, – bitterlich weinend wies Nesthäkchen der Mutter sein Fingerchen, das mit Hansis Stiefelknecht in unsanfte Berührung gekommen war.
»Mein armes Kleines, komm, Mutti wird heile, heile machen.« Annemarie nahm ihr schreiendes Nesthäkchen auf den Arm und ging mit ihm, das verletzte Fingerchen streichelnd, singend auf und ab:
»Heile, Kätzchen, heile,
Kätzchen hat zwei Beine,
Kätzchen hat einen langen Schwanz,
Morgen ist alles wieder ganz.«
Aber Annemaries oft bewährte Heilmethode in der Kinderstube wollte heute nicht verfangen. Klein-Ursel schrie weiter: »Wehweh!«
»Schäm' dich, Hansi, dem armen Schwesterchen solche Schmerzen zu machen. Du bist ein ganz ungezogener Junge!«
Das hätte Annemarie nicht sagen dürfen. Denn jetzt wurden Hansis Schleusen aufgezogen. Ein Zucken um die Mundwinkel, die Unterlippe schob sich vor, und dann ging's los. Arme Annemarie! Hansi heulte mit Nesthäkchen um die Wette. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr.
»Schscht – Kinder! Es ist Sprechstunde, es sind Patienten da!« Annemaries Mitteilung machte wenig Eindruck. Ursel schrie weiter, während Hansi eine kleine Kunstpause eintreten ließ.
»Darniß wahr. Dleich seh iß nach, ob Pajenten da sind.«
Ehe Annemarie ihn zurückhalten konnte, war das kleine Bürschchen barfüßig, in seinen Nachthöschen, aus dem Zimmer, die Tür sperrangelweit offen lassend. Fünf Sekunden später ward er vom Vater, der seinen weißleinenen Untersuchungskittel trug, höchst energisch wieder zurückbefördert.
»Annemarie, du mußt die Kinder besser beaufsichtigen. Das geht nit, daß der Bub mir in die Sprechstunde 'neinläuft, nachzuschauen, ob noch ›Pajenten‹ da sind.« Rudolf Hartensteins Stimme, die zuerst ärgerlich geklungen, ging schon wieder ins Scherzhafte über.
»Ja, ich kann doch nichts dafür, wenn der Schlingel davonläuft«, begehrte Annemarie auf. Sie war in den sieben Jahren ihrer Ehe durchaus noch kein Lamm geworden. Ungerechtfertigte Vorwürfe konnten Frau Annemarie noch ebenso rebellisch machen, wie das früher bei Doktor Brauns kleinem Nesthäkchen der Fall gewesen war. »Da – der Katzenkopf ist fürs Davonlaufen«, höchst energisch entlud sich Annemaries Unmut in einem mütterlichen Klaps. »Nun plärr' nur nicht noch obendrein, Hansi, – ruhig, Klein-Urselchen, Vater macht nachher einen Verband ums Fingerchen. Wenn ihr jetzt nicht ganz brav seid, darf mir keiner nachher beim Kuchenbacken helfen.«
»Nur ich, Mutterli, ich war brav, gelt?« bettelte Vronli, die bereits selbständig in Höschen und Röckchen schlüpfte.
»Hansi auch brav – – –.«
»Lein-Usche auch – – –.« Plötzlich hatte Annemarie wieder die artigsten Kinder von der Welt und konnte ihre unterbrochene Morgentoilette fortsetzen.
Ein wenig echauffiert schaute ihr Gesicht ihr freilich aus dem Spiegel entgegen. Es war etwas voller geworden in den sieben Jahren ihrer Ehe. Auch Annemaries Figur war nicht ganz so gertenschlank mehr wie einst. Aber die Blauaugen strahlten noch in demselben Glanz, wie früher bei dem kleinen Nesthäkchen. Ja, wenn man genau hinschaute, konnte man sogar all die übermütigen Kobolde, all die lustigen Teufelchen aus der Kinder- und Mädchenzeit noch herauslugen sehen. Es war das Bild einer glücklichen Frau, das der Spiegel zurückwarf.
Annemarie Braun hatte niemals lange in den Spiegel geschaut. Und Annemarie Hartenstein hatte noch viel weniger Zeit dazu. Um acht Uhr war Kaffeestunde, die sie stets gemeinsam mit ihrem Manne genoß, bevor er in den Beruf ging. Bis dahin mußten noch Vronlis hellbraune Zöpfchen geflochten, Hansis dicke Beinchen in die ersten Höschen gesteckt und Klein-Ursel angezogen und mit der »Wawa«, der Milchflasche, versorgt werden. Das junge sechzehnjährige Mädchen, das sich Annemarie hielt, hatte genug mit der Hausarbeit und dem Türöffnen während der Sprechstunde zu tun.
So – ein tiefer Atemzug hob Frau Annemaries Brust. Nun war die kleine Gesellschaft befriedigt. Graue Leinenschürzen vorgebunden, zogen sie mit Eimerchen, Schaufel, Löffel und Formen in das Gärtchen hinaus, zu dem Sandhaufen in der Sonne, um das Kuchenbacken vorerst auf eigene Faust zu versuchen.
Annemarie trat an den Frühstückstisch auf der in den Garten hinausgehenden Veranda. Bei ihrem Nahen hob Doktor Hartenstein den Kopf von der Zeitung und streckte seiner Frau liebevoll die Hand entgegen. Wie sie da in ihrem losen lila Morgengewand, das Blondhaar von dem im Winde wehenden roten Weingerank umrahmt, dastand, gefiel sie ihm fast noch besser, als damals zum Rosenfest in Tübingen als Biedermeierfräulein. Jeden Tag freute er sich neu an ihrer äußerlichen und innerlichen Frische.
»Guten Morgen, du alter Brummbär – na, bittest du wieder mal ab?« neckte Annemarie, ihn auf die Stirn küssend. Nachtragend war Doktors Nesthäkchen niemals gewesen.
»So atig!« behauptete Rudolf in Klein-Ursels Sprache und nahm sich seinen Morgenkuss von Annemaries roten Lippen.
Dann machte sie ihm die Frühstücksbrötchen zurecht, und er tat es umgekehrt für sie. So hatten sie es vom ersten Tage ihrer Ehe gehalten. Und wenn sie wirklich mal miteinander »verknurrt« gewesen waren – bei Annemaries temperamentvollem Zufahren kam sowas ja mal vor –, die gemeinsame Morgenstunde hatte stets wieder alles gut gemacht. Die gehört ihnen beiden ganz allein. Auch später, als es in dem grünen Doktornest lebhafter wurde, als die Küken, eins nach dem andern dort zu piepen begannen –, die gemeinsame Frühstücksstunde blieb unangetastet von Kinderlärm, von großer Wäsche, Reinemachen und Dienstbotensorgen. Selbst die Kleinen wußten, daß sie die Eltern beim Morgenkaffee nicht stören durften. Allenfalls Klein-Ursel, das Nesthäkchen, wagte es ab und zu, den heiligen Bannkreis zu durchbrechen, von einem zum anderen zu tappeln, sich ein Häppchen in das aufgesperrte Schnäbelchen schieben zu lassen und dabei zu versichern: »Lein-Usche niß tören – boß Tüßchen deben.«
Die Morgensonne kannte die zwei ganz genau. So weit sie auch herumkam, so neugierig sie auch in alle Stuben und Kämmerchen spähte – nirgends auf ihrer ganzen Reise fand sie in Augen ein so warmes Leuchten, wie bei diesen beiden da draußen in Lichterfelde. Dabei hatten sie auch ihre Sorgen, ein jedes von ihnen. In der bitterteuren Zeit, die auf den Weltkrieg folgte, war es nicht leicht für einen jungen Arzt, sich einen eigenen Herd zu gründen. Die Praxis wuchs erst allmählich. Seit kurzem war Rudolf Hartenstein Mitchef der Doktor Braunschen Klinik. Annemaries Vater sorgte, soweit es ihm selbst nur möglich war, dafür, daß seine Kinder sich nicht allzu sehr einschränken mußten. Aber Annemarie, die niemals gern gerechnet hatte, saß doch jetzt manchmal mit sorgenvoll gefurchter Stirn vor ihrem Wirtschaftsbuch. Nein, was hatte sie in dieser Woche trotz allen Sparens wieder verbraucht! Ja, das waren Überlegungen, die Doktor Brauns in sorgloser Wohlhabenheit aufgewachsenes Nesthäkchen einst nicht gekannt hatte.
Und trotzdem – trotzdem sie tüchtig mit heran mußte, trotzdem es mit den drei kleinen Kindern genügend Arbeit und Aufregung gab, Annemarie hätte nicht zurücktauschen mögen. Als sie, die Marmeladenschrippe in der Hand – Butter war zu teuer, die mußte man sich abgewöhnen –, als sie so ihren Blick über ihr kleines Reich schweifen ließ, über das weinumrankte, weiße Häuschen, in dem sie sieben glückliche Jahre verlebt – über