Am Main war es noch einigermaßen hell. Aber als Annemarie jetzt eine stadtwärts führende Straße einschlug, machte sich die hereinbrechende Nacht doch schon stark bemerkbar. Wie unvorsichtig von ihr, so lange da draußen zu sitzen. Wenn sie sich nun in der fremden Stadt nicht zurechtfand; wenn sie im Dunkeln ihren Gasthof nicht wiedererkannte! Sollte sie zurückgehen und den fremden Herrn bitten, ihr den Weg zu weisen? Er hatte unbedingt etwas Vertrauenerweckendes in seinen Augen, und hatte es ihr doch selbst angeboten, ihr behilflich zu sein. Aber nein – nein – sie hatte sich doch zu abweisend ihm gegenüber benommen. Wie konnte sie sich jetzt mit einer Bitte an ihn wenden!
Schritte hallten hinter ihr her. Doktors sonst so keckes Nesthäkchen beschleunigte den seinigen. Es war ihm recht unbehaglich in der fremden, dunklen Stadt. Es lief in irgendeiner Richtung, ohne jede Überlegung. Ach, wäre es doch jetzt in Stuttgart bei Marlene und Ilse.
Die Häuser hörten auf. Anlagen kamen. Du mein Himmel, sie hatte sich ja gründlich verlaufen! Wie fand sie bloß in die Stadt zurück? Immer noch klangen die Schritte hinter ihr und jagten sie vorwärts. Und jetzt Gesang und Gelächter – es kam ihr entgegen; junge, vergnügte Burschen zogen durch die laue Frühlingsnacht.
Das Lachen und Singen näherte sich. Herzklopfend blieb Annemarie stehen. Sie galt doch sonst für so unverfroren, wo war nur Nesthäkchens kecker Mut hin? Hatten Großmama und Tante Albertinchen nicht recht, daß ein junges Mädchen daheim ins Elternhaus gehörte? Sie hatte diese Ansichten heimlich als altmodisch verspottet.
Wohin wollte sie? Vorwärts oder zurück? Während Annemarie noch überlegte, hatten die Schritte, die den ganzen Weg über hinter ihr gedröhnt, sie eingeholt. Es war bereits zu dunkel, um den Herankommenden zu erkennen. Aber als er zu sprechen begann, wußte Annemarie, daß es der Herr vom Bahnhof und aus dem »Weißen Lamm« war. Das beruhigte sie sehr.
»Ich bitte um Entschuldigung, gnädiges Fräulein, wenn ich trotz der deutlichen Abweisung es wage, Ihnen meine Gesellschaft aufzudrängen. Sie sind fremd hier, ohne Schutz – ich habe halt selbst eine junge Schwester und möcht' sie nit in ähnlicher Lage wissen.« Das klang so echt und menschenfreundlich, daß auch die letzte Scheu und Beklommenheit bei Annemarie schwand. Ein wohliges Gefühl des Geborgenseins kam ihr, während die singenden Burschen an ihnen vorbeizogen.
Sie reichte ihm dankbar die Hand.
»Ich danke Ihnen für Ihre große Freundlichkeit – die ich eigentlich gar nicht verdient habe«, setzte sie ehrlich hinzu. Das war wieder die offene, unbefangene Art, durch die Doktors Nesthäkchen sich allenthalben Freunde errang. Auch der Fremde war angenehm davon berührt.
»Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstell', mein Name ist Hartenstein – Rudolf Hartenstein.«
Mußte sie jetzt auch ihren Namen nennen? In der Tanzstunde hatten sie Anstandslehre gehabt, aber dieser Fall war nicht vorgesehen. Wie meistens handelte Nesthäkchen aus ihrem Gefühl heraus, und das sagte ihr, daß sie diesem geraden, ungezwungenen Entgegenkommen des Fremden in gleicher Weise begegnen müsse. So nannte auch sie ihren Namen und erzählte, daß sie auf dem Wege nach Tübingen sei, um dort Medizin zu studieren.
»Ach, nach Tübingen! Dort studiert meine Schwester ebenfalls.«
»Auch Medizin?« Annemarie rief es in lebhafter Freude. Wie schön, wenn sie dort gleich Anschluß fanden an jemand, der bereits eingebürgert war.
»Nein, meine Schwester studiert halt Chemie und Physik. Ein Mediziner in der Familie ist ausreichend. Ich bin hier in Würzburg, um meinen Doktor zu machen, und freu' mich, eine junge Kollegin in spe kennenzulernen.« Er bot ihr seinen Arm.
»Nee – unterfassen ist nicht!« Bei einem Haar hätte Nesthäkchen »unterklauen« gesagt, wie sie sich den Freundinnen gegenüber auszudrücken pflegte.
Bestürzt trat der junge Mediziner zur Seite. Hatte er wieder irgend etwas versehen? Er pflegte den Freundinnen seiner Schwester, wenn er sie abends nach Haus geleitete, stets ritterlich den Arm zu bieten. Vielleicht war das in Norddeutschland nicht Sitte.
Annemarie biß sich auf die Lippen. Da war sie doch sicher mal wieder zu zufahrend gewesen. Es tat ihr leid, daß Herr Hartenstein jetzt stumm neben ihr in drei Schritt Entfernung hermarschierte. Sie fand seine süddeutsche Sprechweise so nett und hätte ihn gern noch plaudern gehört.
»Das soll keine Kränkung für Sie sein – nicht mal in der Tanzstunde habe ich mich von den Jünglingen unterärmeln lassen – ich kann das nun mal nicht leiden«, lenkte Nesthäkchen wieder ein.
Da lachte Rudolf Hartenstein herzlich, und das Eis war gebrochen. Wie alte, gute Bekannte plaudernd, kamen sie endlich in die Stadt. Denn Annemarie hatte vorher gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen.
»Zu welchem Hotel darf ich Sie führen, gnädiges Fräulein?«
»Es war ein Hahn«, meinte die vergeßliche Annemarie überlegend.
»Ach, sicher der ›Weiße Hahn‹. Da sind Sie gut aufgehoben.« Aber als sie an dem nett aussehenden Hotel standen, merkte Doktors Nesthäkchen, daß es dort nicht zu Hause war.
»Nee, der ›Weiße Hahn‹ ist es nicht. Haben Sie hier nicht noch mehr Hähne?«
»O freilich, noch eine ganze Menge halt, krähende und andere«, scherzte ihr Begleiter. »Da wäre noch der ›Goldene Hahn‹, der ›Bunte Hahn‹ – na, dort werden Sie nimmer abgestiegen sein. Das ist bloß eine Art Ausspannung.«
»Doch, der ›Bunte Hahn‹ ist's! Dort habe ich ausgespannt! Alle andern Hotels waren überfüllt.« Annemarie war glücklich, daß sie jetzt wieder den Namen wußte.
»Ei«, sagte Rudolf Hartenstein und lächelte, »Sie hätten sich doch lieber gleich heute nachmittag meiner Führung anvertrauen sollen, gnädiges Fräulein. Der ›Bunte Hahn‹ ist nicht viel besser als der Stuttgarter ›Elefant‹.«
»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie so nett und so – so ehrlich und zuverlässig sind, hätte ich es auch sicher angenommen«, meinte Doktors Nesthäkchen treuherzig. »Aber Sie hätten doch ebensogut ein Betrüger sein können.«
Da lachte der junge Herr wieder sein von Herzen kommendes Lachen. »Danke sehr für die Ehrenerklärung! Und nun: Grüß Gott, gnädiges Fräulein. Glück auf den neuen Weg! Und falls Sie irgendeinen Rat in Tübingen brauchen, meine Schwester wohnt Parkstraße 3. Sie ist halt ebenso ehrlich und zuverlässig wie ich«, setzte er noch scherzend hinzu. Sie standen vor der verwitterten Front des ›Bunten Hahnes‹.
»Haben Sie recht herzlichen Dank für Ihr Geleit, Herr Hartenstein.« Annemarie schüttelte ihm abschiednehmend die Rechte.
»Ich denk', wir sehen uns schon noch mal wieder in diesem Leben. Die Welt ist ja so klein!« Den Hut lüftend, schritt Nesthäkchens Ritter davon.
Nun war sie oben in ihrem selbst bei Abendbeleuchtung nicht sehr sauberen Zimmer. Annemarie war von ihrem Abenteuer in gehobener Stimmung. Ach was, eine Nacht würde es schon gehen. Wenn man müde ist, schläft man in rotkarierten Betten genau so gut wie in weißen. Und erschöpft war sie jetzt wirklich.
Sie trat zu dem Bett. Da saß auf dem Kopfkissen, mitten in einem roten Viereck, ein schwarzer Punkt. Mißtrauisch betrachtete ihn Annemarie. »Ist der Punkt in fünf Minuten noch da, lege ich mich ruhig ins Bett, dann hat's damit nichts auf sich«, überlegte sie, ihr Blondhaar lösend. »Ist der schwarze Punkt weg, dann gibt's hier Ungeziefer. Keine zehn Pferde kriegen mich dann in das Bett.«
Als Annemarie nach einigen Minuten das Kopfkissen in Augenschein nahm, war der schwarze Punkt verschwunden. Ob davongesprungen oder von dem durch das geöffnete Fenster streichenden Abendwind fortgeweht, ließ sich nicht ergründen.
»Schön«, sagte Annemarie gottergeben und setzte sich auf einen Holzstuhl in die äußerste Zimmerecke. »Diese Nacht wird ja auch mal vergehen.«
Und sie verging – aber langsam. Als der Hausknecht, ihrer Weisung zufolge, morgens um halb fünf gegen die Tür