„Danke“, sagte er und erntete dafür ein Lächeln. Ein schönes Lächeln in einem niedlichen Gesicht, in dem jedoch bloß der Ausdruck der Hilfsbereitschaft stand. „Gern geschehen“, konnte Marco daraus lesen, mehr nicht. Und das kränkte ihn auf einmal. Er war lediglich ein Stück Fleisch. Zur Hälfte zumindest. Mehr war er nicht für diese Frau.
Marco sehnte sich nach Schlaf. Allein, um all diese verwirrenden Gefühle und Gedanken für einen Moment vergessen zu können. Er kämpfte sie nieder, immer, immer wieder, drückte sie unter die Oberfläche wie Luftballons, die jedoch stets irgendwo wieder seinen Händen entglitten. Und im Wettstreit dazu lag der Schmerz, der seinen Rücken nun bald auch in der Seitenlage wieder befiel. Am liebsten hätte Marco einfach laut geschrien. So lange, bis er heiser gewesen wäre. Doch er verkniff es sich und kämpfte weiter. Was hätte er nur dafür gegeben, sich einmal kurz selbst zu drehen, um Linderung gegen den Schmerz zu schaffen!
Klugerweise hatte er vorhin darauf bestanden, dass die Schwester ihm die Klingel in die Hand gab. Es war ein wunderbares, erleichterndes Gefühl, sie darin zu halten und zu wissen, dass er jetzt die Kontrolle darüber besaß. Und er nutzte sie bereitwillig.
Die Schwester kam nur kurze Zeit später wie bestellt.
„Könnten Sie mich wieder auf den Rücken drehen?“, bat er sie, doch sie schüttelte den Kopf.
„Es ist noch nicht soweit, Herr Wingert. Sonst bekommen Sie Druckstellen. In vier Stunden werden Sie wieder gedreht.“
„In vier Stunden?! Das halte ich nicht aus! Können Sie nicht eine Ausnahme machen?“
Erneut schüttelte die Schwester den Kopf und lächelte entschuldigend dabei.
„Versuchen Sie zu schlafen.“
Marco lachte bitter.
„Das will ich ja, aber es geht nicht, weil mein Rücken weh tut, solange Sie mich nicht drehen.“
„Brauchen Sie ein Schmerzmittel?“
„Nein“, fauchte Marco. „Ich will anders liegen, verdammt! Wieso können Sie mir nicht einfach dabei helfen?“ Ihm lagen zahlreiche Schimpfwörter auf der Zunge, um dem Ärger Ausdruck zu verleihen, den er gerade empfand, darüber, dass er sich nicht selber helfen konnte, ja darüber, dass er nicht einmal selbst bestimmen konnte, was nun mit ihm gemacht wurde. Doch er schluckte sie herunter und tat stattdessen einen tiefen Atemzug. „Bitte!“, fügte er flehend hinzu und ihm wurde fast übel dabei.
Aber es wirkte. Der Gesichtsausdruck der Schwester schwankte zwischen nachgeben und konsequent bleiben, und schließlich kippte er zu Marcos Gunsten.
„Also gut, ich drehe Sie auf die andere Seite. Aber dann sollten Sie versuchen, zu schlafen.“
„Danke! Sie sind so gut zu mir...“ Ein erschöpftes Lächeln glitt über Marcos Gesicht und er genoss den kleinen Augenblick seines Triumphs.
Er hatte sein Ziel erreicht. Er lag auf der anderen Seite und der Rücken gab vorerst Ruhe. Und damit dieser gar nicht mehr auf die Idee kam, abermals weh zu tun, ließ Marco sich gleich auch noch das Schmerzmittel geben, mit dem angenehmen Begleiteffekt, dass es ihn müde machte und er endlich in den Schlaf fand.
Zwischenspiel
Lange hatten die Freunde den Drachen bloß betrachtet. Doch nun begannen sie, Fragen zu stellen.
„Was ist passiert? Wie konnte das geschehen? Wieso bist du nicht mit uns gelandet? Warum warst du so töricht?...“
Sie fragten und fragten, bis ihre Fragen zu Pfeilen wurden, die tief in die Haut des Drachen eindrangen und dort blutende, brennende Wunden hinterließen.
„Nie wieder wirst du mit uns fliegen können...“, klagten sie und vergaßen dabei das Herz des Drachen. Sie vergaßen, dass es einen Sprung erlitten hatte, dass seine bunten Farben bereits verblassten, dass der goldene Funke seines Feuers heraus sickerte und drohte, verloren zu gehen. Der Drache hätte es ihnen sagen können, doch er schwieg. Geschah es ihm doch recht, dachte er in seiner Bitterkeit.
Und so vermengte sich das dahinschwindende Gold mit dem Blut seiner Schmerzen, verschmolz zu einer unheilvollen Glut, die zornig aufbegehrte. Wenn das Feuer schon dem Erlöschen geweiht war, so wollte es das zumindest nicht still und kläglich tun.
Kapitel 5
Marco lief. Nein, er rannte. So schnell, dass die Lungen brannten. Doch er hörte nicht auf. Niemals würde er mehr stehen bleiben, das hatte er sich geschworen. Er würde seinen Beinen verbieten, sich von seiner Kontrolle zu verabschieden. Wie ein Gebet wiederholte er es immerzu: Lauft, lauft, lauft. Und es fühlte sich so gut an. So unglaublich gut! Der Unfall, die Taubheit, die Lähmung, alles war bloß ein böser Traum gewesen, so dachte er. Er war sich dessen so sicher.
„Herr Wingert“, rief es aus der Ferne. Eine Hand umfasste Marcos Schulter und bremste plötzlich seinen Lauf. Marco blieb stehen, starrte entsetzt an sich herunter und erkannte die Fesseln, die sich aus dem Nichts um seine Füße schlangen. Er wollte sich aus ihnen herauswinden, doch sie zogen sich dabei nur fester zusammen. Er stürzte, wollte wieder aufstehen, aber seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Marco schrie und schlug nach der Hand an seiner Schulter, die ihm das alles eingebrockt hatte. Doch er wurde sie nicht los.
Als er seine Augen aufriss, starrte er in das Gesicht einer Krankenschwester. Sie lächelte ihn sanft an.
„Guten Morgen. Ich werde Sie jetzt waschen.“ Und mit diesen Worten zog sie den Nachtschrank heran, auf dem bereits eine Waschschüssel stand.
Irritiert sprang Marcos Blick von der Schwester zu der Waschschüssel und wieder zurück. Der Schock seines Traumes war noch nicht überwunden, da folgte unmittelbar schon der nächste.
„Waschen?“, fragte er entgeistert.
Die Schwester lachte leise.
„Ja, Sauberkeit muss auch im Krankenhaus sein. Außerdem fühlen Sie sich danach frischer, Sie werden sehen.“
„Aber ich kann mich doch selber waschen.“
Die Krankenschwester zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Na, das glaube ich kaum. Aber Ihr Gesicht und den Oberkörper können Sie gerne selbst waschen. Das bekommen Sie in der Tat hin. Und beim Rasieren kann ich Ihnen gleich helfen.“ Die Schwester nahm einen Lappen aus der Schüssel, wrang ihn aus und reichte ihn Marco.
„Dann fangen Sie schon mal an. Ich leere in der Zeit den Urinbeutel.“
Wieder stutzte Marco und erst jetzt fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit gar nicht auf die Toilette gemusst hatte. Auf einmal fühlte er sich wie einer der alten Männer, die er damals in seinem Zivildienst gewaschen hatte. Von jetzt auf gleich war er bar jedweder Intimsphäre, ohne Würde und für den Waschenden bloß Arbeit, die zu erledigen war. Unwillkürlich schoss ihm die Schamesröte in die Wangen und brannte dort wie ein unauslöschliches Feuer. Er sah, wie die hübsche junge Schwester sich mit einer Kanne in der Hand vor das Bett hockte und hörte kurz darauf das Plätschern seines Urins, der in die Kanne ablief. Am liebsten wäre er augenblicklich im Erdboden versunken und die Vorstellung, dass er nun womöglich immer solch einen Beutel mit sich herumtragen musste, versetzte ihm einen Schock.
Aber das war erst der Anfang.
Mit ganzer Kraft hatte Marco gegen das Gefühl der Erniedrigung angekämpft, sodass es ihm nun immerhin gelang, sich halbherzig mit dem Lappen durch das Gesicht zu wischen, über die Brust und unter die Achseln. Dabei beobachtete er jedoch verstohlen, wie die Schwester seine Beine wusch, und es kam ihm alles so irreal vor. Er sah das Wasser an den Seiten seiner Schienbeine herunter laufen und konnte sich noch ganz genau an das Gefühl erinnern, das man gewöhnlich dabei hat. Aber was er sah, hätte einem Fremden passieren können, denn sein Hirn meldete ihm keine Reaktion dazu. War das Wasser warm? Oder eiskalt? Rieb der Lappen beherzt oder behutsam über seine