Aber der Himmel war höher. Rita Kuczynski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita Kuczynski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844292671
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Blicks aus dem fünften Stock auf den Trümmerberg wollte ich die viel zu große Wohnung noch immer nicht aufgeben.

      Der Blick über den Park erinnerte mich an Manhattan, das ich so liebte. Auch wenn ich dort stets sehr kleine Wohnungen hatte, so lagen sie doch immer direkt am Central Park.

      Das letzte Zimmer dort war das kleinste, das ich überhaupt je hatte. Es war nur für ein paar Tage. Drinnen war nur Platz für ein Bett, einen Schrank, einen Stuhl und für meinen Koffer. Aber der Blick über den Park ließ mich die Enge des Zimmers schnell vergessen. Da es September war, konnte man die Fenster schon wieder öffnen und die Klimaanlage abschalten. Ich hatte Max gerade verlassen. Oder er mich? Das wird nicht mehr aufzuklären sein. Auf jeden Fall zog ich aus. Ich wollte die letzten Tage vor meiner Rückkehr nach Deutschland allein in New York verbringen. Mein Stipendium lief aus.

      Und ich hatte die Ahnung, dass ich hierher so bald nicht zurückkehren würde. Jedenfalls nicht so unbeschwert, wie ich bisher gekommen war. Daher wollte ich mich von diesem New York, das ich so liebte, verabschieden. Wollte seine Bilder und Silhouetten aufnehmen in mich, sein Licht, das im August ein anderes ist als im September. Wollte die Bilder genau abspeichern, um sie nicht zu vergessen. Also lief ich tagelang durch die New Yorker Straßen. Irgendwann hatte das endlose Laufen alle Straßen gleich gemacht. Ich nahm nur noch die Straßenführungen wahr. Ihre Geometrie hatte sich mir so eingeprägt, dass ich mit geschlossenen Augen hätte gehen können. Ich kannte inzwischen den Rhythmus, in dem die New Yorker durch die Straßen laufen. Er ist auf dem Broadway in Manhattan ein anderer als in Chelsea oder gar in Brooklyn.

      Mein Fixpunkt blieb der Central Park, an den ich nachts wieder zurückkehrte. Er wurde gewissermaßen mein Zuhause und gab mir die Gewissheit, dass ich tatsächlich noch in New York war. Denn die Stadt, so schien mir, hatte mich zeitweilig schon ausgeschlossen. Oder ich sie? Ein heilsames Alleinsein, das mich zu mir selbst zurückführte mitten unter den immer eilenden Menschen hier. Nicht Leere war es, sondern Alleinsein und mein Einverständnis mit ihm. Ein Alleinsein, das ich in solch einer Abgeschiedenheit nur in New York kennen gelernt habe.

      Ich hatte immer Nüsse bei mir in diesen Tagen. Mit ihnen fütterte ich die Squirrels, wenn sie in der Dämmerung zu den Papierkörben kamen und nach Essbaren suchten. Mitunter teilte ich die Nüsse mit ihnen. Dann ging ich hoch in mein Zimmer, sah stundenlang über den Park.

      Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich hätte genügend Abstand und sei stark genug, um nach Washington D.C. zu fahren. Ich musste noch einiges mit den Behörden klären. Da zu befürchten war, dass ich das Amtsenglisch nicht wirklich verstand, bot mir Max an mitzukommen. Das war mir ganz recht, da ich auch mein Bankkonto ändern musste und offiziell noch immer bei Max wohnte. Wir hatten uns ja nicht verkracht. Wir hatten uns getrennt, weil es so, wie es war mit uns, nicht mehr weiter ging. Jedenfalls nicht für mich. Und natürlich musste ich gehen, schließlich konnte Max nicht aus seinem Haus ausziehen.

      Max holte mich an der Union Station von der Bahn ab. Im ersten Augenblick freuten wir uns beide, uns wieder zu sehen. Eine alte Vertrautheit ließ uns unsere Trennung vergessen. Auf dem Weg nach Georgetown hielten wir am Duponte Circle, um bei unserem Chinesen zu essen. Max bestellte wie immer das Tagesmenü, das wir auch Überraschungsmenü nannten. Irgendwann realisierten wir, dass es das »Wir« und »unseren« Chinesen ja gar nicht mehr gab. Das Gespräch stockte. Wir tranken jeder für sich den Jasmintee. Die kleine Kellnerin namens Min Ya hatte ihn unaufgefordert gebracht. Ein bisschen Melancholie kam auf. Bevor sie sich ausbreiten konnte, unterbrach Max unsere Wortlosigkeit durch einen seiner Witze. Max wusste, dass ich ihn zum besten Witzeerzähler aller Zeiten gekürt hatte.

      »Sagt der Masochist zum Sadisten, schlag’ mich. Sagt der Sadist, ich denk’ ja nicht dran.«

      Er lachte, dann er grinste er mich freundlich an.

      »Komm, lass uns gehen.«

      Danach spielten wir die Vernünftigen. Ich schlief im Gästezimmer, obwohl Max protestierte. Aber ich wusste, hätte ich mich nicht auf diese demonstrative Weise separiert, wir hätten wieder miteinander geschlafen. Und das hätte die Trennung nur noch schwerer gemacht.

      9

      Der Lärm von den Müllautos auf der Straße weckte mich, es war schon neun Uhr. Ich musste zu diesem Herrn Jungmann. Er hatte ein sogenanntes »Brainstorming« – wie er sich ausdrückte - angesetzt. Musste mich einstimmen auf das Gespräch. Dazu musste ich mir überlegen, was ich anziehe. Noch fehlte mir die rechte Kleidung für meine neue Rolle. Außerdem musste ich mir zumindest drei zusammenhängende Sätze überlegen, wie man denn nun Menschen animiert, damit sie sich gegen Risiken versichern ließen.

      Herr Jungmann empfing mich freundlich in seinem Arbeitszimmer. Er trug ein schwarzes Leinenhemd mit Stehkragen, dazu eine schwarze Leinenhose mit weißem Ledergürtel. Sein Aufzug erinnerte mich an einen chinesischen Zirkusdompteur, den ich vor Jahren in Tusche gemalt hatte. Kurz vor Weihnachten war der Zirkus auf dem Weg nach Wien auch in Berlin. Der Dompteur arbeitete mit Pinguinen. Ich hatte mich nach seiner Show in die Kantine gesetzt und Skizze um Skizze von ihm gemacht. Sein schwarzes Hemd, das er über der Hose trug, war auch durch solch einen Gürtel aus geflochtenem weißem Leder geteilt. Glücklicherweise hatte der Dompteur nicht bemerkt, dass ich ihn zeichnete. Denn wie ich später erfuhr, hätte er es nicht gestattet. Einer anderen Künstlerin hatte er mit einem Prozess gedroht, wenn sie ihre Zeichnung irgendwo ausstellen oder gar veröffentlichen würde.

      Während ich auf den weißen Gürtel von Herrn Jungmann starrte, kam er mir entgegen und reichte mir die Hand. Sein Zimmer war riesengroß, zu groß für diesen schmächtigen Mann. Der Stil des Raumes: Metallmöbel, einschließlich der Stühle und zu viele Papierkörbe. Herr Jungmann bat mich, Platz zu nehmen. Der Metallstuhl war so kalt, dass ich noch mal aufstand und meine Jacke auf den Sitz legte.

      Es freue ihn, mit mir zusammenarbeiten zu dürfen, sagte er. Mich freue es auch, log ich ihm frech ins Gesicht. Ob er mich zum Italiener entführen dürfe. Der sei gleich hier an der Ecke. Natürlich nur, wenn ich damit einverstanden sei, sein Gast zu sein. Der Laden sei nicht erstklassig, aber doch ganz ordentlich.

      Was sollte ich dagegen haben? Und so gingen wir. Lisa, die wir auf der Treppe trafen, sagte mit leicht ironischem Ton: »Na, dann guten Appetit.«

      Ich bestellte einen großen Salat mit Thunfisch. Wein nahm ich keinen, obwohl mich Herr Jungmann zweimal bat, ihn nicht allein trinken zu lassen. Aber es war noch viel zu früh für Wein. Jedenfalls für mich.

      Nachdem wir bestellt hatten, holte er aus seiner Jackentasche eine Pappbrille. Er bat mich, sie aufzusetzen. Er bat mich so, dass kein Widerspruch möglich war. Er war schließlich der Chef der Werbeabteilung und damit mein unmittelbarer Vorgesetzter. Ich setzte die Brille also auf. Das eine Glas war mit blauer, das andere mit dunkelgrauer Folie beklebt.

      »Und nun sehen Sie auf die Straße. Was sehen Sie?«

      Ich zögerte mit der Antwort.

      Nach einer Pause sagte er: »Das Risiko ist blau, das Risiko ist grau. Das Risiko ist wie eine Brille, durch die wir die Welt betrachten können. Dabei einigen wir uns von Zeit zu Zeit auf das, was wir Risiko nennen. Wir bestimmen nämlich, was ein Risiko ist. Und was nicht.« Er holte drei weitere Brillen aus seiner Tasche. Sie hatten rote, grüne und gelbe Folien. Er legte sie auf den Tisch und schob sie auf der Papiertischdecke hin und her.

      »Welches ist die richtige?«

      Ich zögerte wieder mit einer Antwort.

      »Verstehen Sie. Alles hängt von der Brille ab, durch die wir ein wahrscheinliches Ereignis als Bedrohung wahrnehmen.«

      Er hob genüsslich sein Weinglas und betrachtete es.

      »Es ist wie die uralte Geschichte mit dem Glas. Ob es halb voll ist oder halb leer, hängt von unserer Stimmung und Lebensicht ab.«

      Er prostete mir zu.

      »Wir bestimmen also mit, was ein Risiko ist. Das ist eine sehr demokratische Angelegenheit. Finden Sie nicht?«

      Er und sah mich listig an.

      »In