»Nein, keine Ahnung, das ist ja gerade das Problem.« Thomas überlegte. »Frau Hartfeld kann allerdings überall in Berlin unterwegs sein. Sie sollten ...«
Thomas wurde durch ein Geräusch abgelenkt, das aus dem Flur der Wohnung kam. Er drehte sich in dem Moment um, als die Küchentür aufgestoßen wurde.
»Polizei! Ist da jemand?«
Ein uniformierter Beamter tastete sich einen Schritt in die Küche vor. Er wurde vom Flur aus durch seinen Kollegen abgesichert.
»Hallo, würden Sie bitte vom Fenster wegtreten. Zeigen Sie mir Ihre Hände.«
Thomas gehorchte streckte die Arme etwas in die Höhe, hielt das Telefon mit zwei Fingern und zeigte seine Handflächen.
»KOK Leidtner vom LKA«, gab er sich schließlich zu erkennen.
Mit der freien Hand zog er seine Marke aus der Hosentasche. Der Uniformierte senkte die Waffe und nickte. Thomas führte das Handy wieder ans Ohr.
»Ich bin oben in der Wohnung Kladden Straße 27, ich komme herunter.«
*
Harald Prossmann hatte seinen blauen Bademantel an einen der Haken neben der Dusche gehängt. Er drehte die Armatur auf und stellte sich sofort unter den kräftigen Wasserstrahl. Kai wartete noch, bis Prossmann fertig war, hängte sein Handtuch neben den Bademantel und stellte sich dann ebenfalls unter die Dusche. Anschließend gingen die beiden Männer hinüber zu den äußeren Schwimmbahnen auf der Hallenseite mit den bodentiefen Fenstern.
Marek aß den letzten Rest seines Twix und beobachtete wie Harald Prossmann und Kai die Badelatschen am Beckenrad auszogen. Prossmann lockerte sich mit ein paar Rumpfbeugen. Es sah so aus, als bereite er sich auf einen Wettkampf vor. Kai wandte sich inzwischen um und sondierte zum wiederholten Male die Schwimmhalle. Dann trafen sich seiner und Mareks Blick. Kai nickte unmerklich in Richtung der Frühstücksrentner, die sich sammelten, um gemeinsam die Halle zu verlassen. Ein letzter Schwimmer verließ gerade das Wasser. Während der Mann die Leiter hinauf stieg, sah er zu Harald Prossmann hinüber, der nun neben seinem Startblock ins Becken geglitten war und sich im Wasser mit ausgiebigen Streckbewegungen weiter aufwärmte.
Der verbliebene Frühstücksrentner hatte schließlich wieder festen Boden unter den Füßen und nahm seine Schwimmhaube ab, unter der er volles graues Haar hatte. Er griff sich seinen weißen Bademantel, der feinsäuberlich auf einer flachen Heizung an der Wand zu den Umkleidekabinen lag und zog ihn langsam über. Dabei schaute er weiterhin interessiert zu Harald Prossmann. Der Mann verschnürte sorgsam den Bademantel und es schien so, als wolle er gleich der kleinen Gruppe Frühstücksrentner in den Gang zu den Umkleidekabinen folgen. Dann hielt er aber noch einmal inne, wandte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Marek hatte den Mann beobachtet. Er erhob sich jetzt von seinem Stuhl und stellte sich direkt an die Panoramascheibe. Sein Blick wanderte zu Kai, der gerade seinen Startblock bestieg, kurz in die Hocke ging und dann mit einem eleganten Kopfsprung ins Wasser eintauchte. Harald Prossmann hatte inzwischen mit leichten Kraulbewegungen begonnen und war bis zur Mitte seiner Bahn geschwommen. Kai holte ihn auf der Nebenbahn mit drei kräftigen Zügen ein, drosselte dann aber sein Tempo und hielt sich schräg hinter Prossmann, der jetzt seinerseits anzog. Die erste Bahn war geschafft. Harald Prossmann tauchte zur Wende unter, stieß sich vom Anschlag ab und kam nach vier, fünf Metern wieder an die Oberfläche.
Währenddessen war der Rentner im weißen Bademantel auf die andere Seite des Schwimmbeckens geschlendert und blieb genau vor Harald Prossmanns Bahn stehen. Er bückte sich und sah schräg über die Wasseroberfläche. Dann schlug er den Bademantel zurück und setzte sich seitlich auf den Startblock.
Harald Prossmann näherte sich mit kräftigen Kraulbewegungen. Kai war weiterhin schräg hinter ihm, schien dann aber eine mögliche Gefahr zu registrieren. Augenblicklich erhöhte er sein Tempo, zog mühelos an Harald Prossmann vorbei und bremste erst zwei Meter vor dem Anschlag ab.
»Bravo!« Der Mann im weißen Bademantel klatschte. »Jetzt müssen Sie noch die Bande berühren, damit es gilt.«
Kai Bokel antwortete nicht. Harald Prossmann war aus dem Rhythmus gekommen. Er schnaube zweimal ins Wasser, bremste dann ab und erkannte, warum ihn Kai überholt hatte.
»Entschuldigung, ich wollte nicht stören«, rief der Rentner im weißen Bademantel Harald Prossmann zu. »Aber ich habe gerade gedacht, den kenne ich doch.«
»Darf ich Sie auffordern ...«, begann Kai, wurde aber von Harald Prossmann unterbrochen, der mit zwei kurzen Zügen nähergekommen war.
»Lassen Sie mal«, sagte Prossmann zu Kai. »Ist ja ein öffentliches Bad hier.« Er lächelte den Rentner an. »Kennen wir uns denn?«
»Was? Nee, dass wohl nicht so direkt, aber Sie sind doch der Prossmann von den Sozis, äh, sorry, von den Sozialdemokraten?«
»Richtig, dann kennen wir uns also doch«, entgegnete Harald Prossmann während er sich mit Tretbewegungen über Wasser hielt.
Marek hatte seinen Posten verlassen. Er sah sich im Eingangsbereich der Schwimmhalle um. Links neben dem Kassenschalter führte eine Treppe hinauf zu einer Tür, über der das Wort Zuschauertribüne stand. Er nahm immer drei Stufen auf einmal, erreichte das obere Ende der Treppe und zog die Tür auf. Warme Luft strömte ihm entgegen, es roch noch stärker nach Chlor, das Wasserplätschern hallte von den Wänden. Marek blieb am Geländer der Zuschauertribüne abrupt stehen, um nicht sofort aufzufallen. Er sah hinunter auf die Szene, die sich am Beckenrand abspielte. Harald Prossmann und Kai Bokel waren noch im Wasser. Auf den Bahnen fünf und sechs lieferten sich der SLK-Fahrer und sein Gegner ein weiteres stilles Rennen. Sie glitten dynamisch durchs Wasser, ohne übermäßig Wellen zu schlagen. Marek schaute ihnen ein paar Sekunden zu. Die nächste Wende führten sie fast synchron durch.
Dann erhob sich der Rentner im weißen Bademantel vom Startblock. Marek konzentrierte sich wieder auf die Szene am anderen Ende der Schwimmhalle.
»Ich habe da mal eine Frage, wenn es gestattet ist, Herr Prossmann«, sagte er. Seine Stimme hatte jetzt einen provokativen Unterton.
Harald Prossmann schwamm zwei weitere Züge näher an den Beckenrand heran und nickte. »Bitte, nur zu, was kann ich für sie tun?«
»Danke, danke!« Der Rentner deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht erinnern Sie sich ja auch gar nicht mehr. Sagt Ihnen die Bordeauxstraße etwas?«
Harald Prossmann hob den Kopf etwas weiter aus dem Wasser. »Da muss ich wirklich überlegen, was Sie meinen.«
»Pankow«, sagte der Mann gedehnt. »Das ist jetzt allerdings schon sieben oder acht Jahre her.«
»Sieben oder acht Jahre«, wiederholte Harald Prossmann. »Ich bin jetzt wirklich etwas neben der Spur, guter Mann.«
»GOBe Bau, da müsste es doch jetzt bei Ihnen Klick machen. GOBe Bau, Gerhard Otto Berlin Bauunternehmung. Na, wie sieht es aus, sagt Ihnen das jetzt etwas?«
»Bordeauxstraße, Sie sprechen von dem Neubauvorhaben in der Französischen Siedlung. Marseille Straße, Toulon Straße, Rennes Straße?«
»Ganz toll, Sie haben es erfasst.« Der Rentner klatschte kurz in die Hände. »Ja, alles hat mit der Bordeauxstraße angefangen. Das war schon eine ganz schöne Schweinerei, was die mit den alten Leutchen da gemacht haben. Und die Politik stand auf Seiten von dieser Heuschrecke, diesem feinen Herrn Otto.«
»Waren Sie dort Mieter?«, fragte Harald Prossmann.
Jetzt konnte er sich tatsächlich an den Fall erinnern. Es war aber bestimmt schon neun Jahre her oder sogar noch länger. Die Neubebauung des Französischen Viertels wurde damals durch alle kommunalen Instanzen gepresst, ohne dabei auf die Interessen der alteingesessenen Anwohner Rücksicht zu nehmen. Er selbst hatte sich für die Neubebauung stark gemacht und die öffentliche Meinung damit beruhigen lassen, dass die alten Mieter nach Fertigstellung des ersten Bauabschnittes in die Bordeauxstraße zurückkehren