Es hatte geklappt.
»Oh ja, Mausbär, ich habe die Zeit ganz vergessen«, Nadine beugte sich zu Loriot hinunter, »du musst jetzt mal los, oder?«
Sie streichelte seinen Nacken, was er mit schläfrigem Schwanzgewedel beantwortete. Der vorbeieilenden Kellnerin winkte sie auffällig zu und beglich so schnell wie möglich ihre Rechnung.
Innerlich zusammenzuckend hörte sie sich beim Verabschieden noch zu ihrer Freundin sagen: »Na klar können wir uns am Mittwochabend wieder hier treffen«, dann zog sie davon in Richtung - egal. Irgendwohin.
Der Malteser torkelte ein wenig auf seinen Beinchen.
»Tut mir leid, Loriot, dass ich dich schändlicherweise aus dem Schlaf gerissen habe«, murmelte sie.
Sie stromerte ziellos die Fußgängerzone entlang, stoppte mal hier, dann dort vor den Schaufenstern. Loriot war ganz in seine olfaktorische Welt vertieft und verbrachte den Weg mit der Nase tief auf den Boden gesenkt.
Die Frage war gut gewesen, merkte Nadine jetzt.
Was war eigentlich mit ihr los?
Sarahs Gerede über ihren Job, ihren Mann und überhaupt ihr gesamtes irgendwie verkorkstes Leben hatten sie plötzlich angeödet. Was sie sonst geduldig über sich ergehen ließ und mit gut gemeinten Ratschlägen eher noch befeuerte, fand sie heute einfach nur anstrengend.
Vielleicht die Hormone? An manchen Tagen im Monat ging sie sich schon selbst auf den Nerv, manche Leute kamen ihr dann gerade recht. Doch das kam zeitlich nicht hin. Haken an den Frauenkram.
Also gab es einen anderen Auslöser für ihre schlechte Laune. Gedankenverloren starrte sie in die Auslagen eines Ladens für Gesundheitsschuhe. Warum konnten solche Schuhe nicht schöner sein? Gehörte zum Altwerden oder zu verschieden langen Beinen zwangsläufig, dass die Schuhe aussahen wie ihr eigener Verpackungskarton? Wahrscheinlich musste das so sein. Genauso wie ältere Leute grundsätzlich gerne alles in sportbeige trugen. Sportjacke, Sportschuhe, Sportmütze - alles beige. Genau wie die Gesundheitsschuhe hier. Macht man halt so.
Macht man halt so.
Da klang etwas in Nadines Gedankenwelt nach. Sarah hatte einen Satz gesagt, der jetzt in ihr aufblitzte.
Das ist nun mal so, wenn man noch nie Glück im Leben hatte.
Und dann noch dieser andere Satz.
Du hast gut reden, du hattest ja keine geschiedenen Eltern.
Genau in dieser Sekunde, mit Blick auf die Schnürsenkel im Sonderangebot, wurde ihr klar, warum sie mit einem Mal so verstockt gewesen war. Dieser Satz war der Knackpunkt: Du hattest ja keine geschiedenen Eltern.
So gesehen war sie natürlich nicht die Richtige, um anderen Leuten Ratschläge zu geben. Sie hatte ja gut reden.
Nadine konnte es nicht verhindern: Unmut stieg in ihr auf und ließ den Café Latte in ihrem Magen neu aufschäumen. Jetzt, wo sie sich daran erinnerte, was sie geärgert hatte, könnte sie es abhaken. Aber die Denkschleife in ihrem Kopf war fest eingerastet.
Sie hatte ja gut reden.
Ihre Kindheit war in einer gemütlichen Mittelstandsumgebung abgelaufen. Mit weitläufigem Garten hinter dem Haus, ein paar Haustieren und ohne anstrengende Geschwister. Mit ihren Eltern konnte sie noch bis heute ohne bemerkenswerte Zwischenfälle prima plaudern. Mami war der Mittelpunkt einer allwissenden und wohlgehüteten Ordnung, Papi sowieso ihre ganz große Liebe.
Sie hatte ja gut reden.
Dank ihres einzigen lebenden Opas, der nur drei Straßen weiter gewohnt hatte, lernte sie bereits lange vor der Schulzeit Lesen. Sie hatte den Tabakgeruch seiner Pfeifen geliebt und besaß heute noch uralte Bücher aus seiner Sammlung. Na gut, die Pfeifen hatten Opa irgendwann danieder gestreckt, aber er war trotz seines Kehlkopfkrebses ein sehr alter Mann geworden. Als er starb, war sie schon erwachsen genug, um Abschied nehmen zu können.
Sie hatte ja gut reden.
Niemand hatte sie je irgendwo angefasst, wo er nicht sollte. Mit den meisten Lehrern war sie gut parat gekommen und schwamm im oberen Leistungsdrittel locker mit. Sie hatte einen erfüllenden Job. Sie hatte noch nie einen Vollrausch gehabt.
Sie hatte ja gut reden.
Nadine merkte, wie sie immer noch wie gebannt auf die orthopädischen Strümpfe starrte. Loriot hatte sich mittlerweile neben sie gesetzt und schaute zu ihr hoch. Ihm war die Sache wohl nicht ganz geheuer, er fing leise an zu fiepen.
Sie sah gedankenverloren zu ihm hinunter. Dann ging sie langsam weiter.
Es gab da so eine Kleinigkeit.
Sie mochte ihren Namen nicht.
In ihrer Grundschulklasse hatte es noch zwei weitere Nadines gegeben, in der Oberstufe auf dem Gymnasium vier. Da hatten ihre Eltern Ende der siebziger Jahre nicht viel Fantasie bewiesen, der Name war zu der Zeit eher unoriginell. Und die zahlreichen Verballhornungen nervten sie. Nadinchen, Dina, Nani, Naddi. Ganz schlimm: Naddel. Aber den Vogel hatte damals in der neunten Klasse der dicke Christian abgeschossen. Er hatte sie Nacho getauft. Dieser Name klebte bis heute wie Pech an ihr. Der einzige Trost, der ihr blieb, waren die fünf weiteren Christians in ihrer Stufe. Da hatte es wohl noch andere Eltern gegeben, die keine pfiffigeren Ideen für ihre Sprösslinge in Sachen Namensgebung gehabt hatten.
Dabei ging es ihr doch gut mit ihrem Namen. Da gab es damals Wolke. Die mit den Hippie-Eltern. Zweimal war sie bei ihr zu Besuch gewesen und hatte sich immer über den schweren Geruch gewundert, der durch die Räume der knallbunten Wohnung gezogen war. Seltsames Parfum, hatte sie in jener Zeit mit ihren acht Jahren gedacht. Von diesen sonderbaren bewusstseinserweiternden Substanzen hatte sie erst viel später gehört. Aber da ließ Wolke schon lange niemanden mehr zu sich nach Hause. Das letzte Mal hatte sie eine Schulfreundin bei sich zu Besuch, als ihre Eltern nebenan lautstark bei Übung dreiundvierzig aus dem Kamasutra angekommen waren. So lautete zumindest das Gerücht. Mehr wusste sie ohnehin nicht über Wolke, die kurz vor dem Abi die Schule verlassen hatte. Angeblich war sie mit einem sechszehn Jahre älteren Bänker durchgebrannt und wohnte jetzt – zweimal geschieden – in irgendeinem südbayerischen Kaff. Mit drei Kindern. Ja, so eine Kindheit konnte einem alles versauen. Wolke hatte eben Pech gehabt, dass ausgerechnet ihre Erziehungsberechtigten die Hippiezeit noch bis weit in die Achtziger durchleben wollten.
Ihr Name als Kindheitstrauma? Wie banal.
Nadine war mittlerweile in ihrer Straße angekommen. Loriot zog sie bis zur Haustür, zergelte weiter an der Leine, während sie versuchte, ihre Post aus dem Briefkasten herauszusammeln. Mit den Briefen unterm Kinn fummelte sie ihren Hausschlüssel auf dem Weg in den zweiten Stock aus ihrer heute wieder unendlich tiefen Handtasche.
»Hallo Fippsi«, sagte sie zu der geschlossenen Wohnungstür neben ihrer eigenen. Unter der Türschwelle kroch der Geruch des Parfums hervor, das schon Wolkes Eltern benutzt hatten. Als sie die eigene Tür hinter sich zugezogen hatte, hörte sie durch die Stille ihres kleinen Flurs, dass ihre Nachbarin gerade Geld verdiente. Ihr erster Griff ging sofort zum CD-Player, um das wilde Geknarzte mit dem Adagietto von Gustavs Mahler Symphonie Nummer fünf zu untermalen. Der nächste Griff ging in den Kühlschrank, wo noch ein Rest vom gestrigen Rotwein auf sie wartete. Sie schenkte sich ein Glas ein und stellte es auf den kleinen Beistelltisch neben Mr. Snug.
Und dann ließ sie sich hineinfallen in ihren alten Ohrensessel. Sie lehnte sich zurück, legte die Arme auf die wulstige Lehne aus Leder, schmiegte sich in das stoffbezogene Sitzkissen. Ein Traumstück, das sie mit viel logistischem Aufwand vor ein paar Jahren aus dem ehemaligen Kuhstall ihrer Tante gerettet hatte. Nach drei Flaschen Febreze war er der Mittelpunkt