Den Rest der Fahrt versucht Anna, möglichst viel von der Landschaft zu sehen. Überall liegt eine dicke Schneedecke. Bäume biegen sich unter der schweren Last oder sind bereits zu Schaden gekommen. Kurz vor dem Erreichen des Heimatbahnhofs versucht Anna, Ainoa zu kontaktieren. Sie konzentriert sich derart heftig, dass sie sogar die Fäuste ballt. Trotzdem gelingt ihr die Verbindung erst beim vierten Versuch.
»Ich verstehe … schlecht«, vernimmt sie die krächzende Stimme der Elfe, die in der hiesigen Welt immer die Gestalt eines Kolkraben annimmt. »… ist seltsam. Bist … wieder zurück?«
»Ich werde voraussichtlich in einer Stunde in meinem Zimmer sein. Komm bitte dorthin.«
»… in deinem … komme.«
Die Verbindung ist bereits wieder unterbrochen und trotz weiterer Versuche nicht erneut herstellbar. Schließlich gibt Anna auf. Sie hofft, dass die Elfe sie trotzdem verstanden hat. In Kürze wird sie wissen, ob das so ist. Sonst wird sie es erneut versuchen.
Auch dieses Mal holt Iain Raven das Team vom Bahnhof ab. Er ist über das Ergebnis zwar etwas enttäuscht, freut sich aber trotzdem über die erzielten Punkte. Er weiß, für ein Team, dass sich erst vor wenigen Monaten gebildet hat, ist das Resultat gegen eine Mannschaft mit langer Tradition schon ein Riesenerfolg. Als Anerkennung gibt es heute ein gemeinsames Abendessen mit besonderen Leckereien.
Die kleine Feier findet gegen achtzehn Uhr in einem abgetrennten Bereich des Speisesaals statt. Alle Teammitglieder sind eingeladen, unabhängig davon, ob sie gespielt oder moralische Unterstützung geleistet haben. Die Schüler haben bis dahin genug Zeit, sich angemessen umzukleiden. Morwenna wechselt ihre Tweetkleidung gegen die übliche Kluft mit Umhang, da der Tweet in den geheizten Räumen zu sehr wärmt.
Anna wartet bis zum maximal möglichen Zeitpunkt in ihrem Zimmer auf die Elfe, die aber offenbar nicht alles gehört hat, was die Freundin ihr sendete. Sie könnte aber möglicherweise auch verhindert sein, so dass längeres Warten keinen Sinn macht. Um nicht zu spät zu kommen, hastet das Mädchen aus ihrem Zimmer, die Treppen nach unten und durch die Kälte draußen hinüber zum Internatsgebäude.
Nach der kleinen Feier folgt Anna Morwenna und Iain in dessen Büro. Dort setzt sich das Mädchen neben die Bibliothekarin und lauscht wie der Schulleiter ihren Erläuterungen.
»Innocent hatte den Hausmeister des Gebäudes ermittelt, in dem sich die Wohnung Siegfried Backs befindet. Außerdem schaffte sie es, ihn zu überzeugen, dass ich dessen besorgte Cousine sei. Unser Täuschungsmanöver gelang ausgezeichnet. Er war erleichtert, dass wir den Besitzer der Wohnung dort nicht tot vorfanden. Das hatte ich auch nicht erwartet. Ich wollte die Räume ein wenig genauer unter die Lupe nehmen. Der Mann zögerte, uns allein zu lassen, wurde jedoch nach einigen Minuten zu einem dringenden Fall gerufen. Es gab zu meinem Glück in einer der Wohnungen einen Wasserrohrbruch oder Ähnliches, was sein sofortiges Eingreifen erforderte. Wir ließen uns davon nicht aus dem Konzept bringen und versprachen, uns nur noch kurz umzusehen, ob Siegfried irgendeine Nachricht für seine liebe Cousine hinterlassen habe. Dann wollten wir die Tür hinter uns zuziehen, die der Hausmeister später verschließen sollte.« Morwenna beschrieb, dass die Wohnung äußerst sparsam eingerichtet war. Es gab allerdings viele Bücher dort, die sich vorwiegend mit historischen Themen und vergangenen Kulturen beschäftigten, wie die Bibliothekarin mit geschultem Blick schnell erkannte.
»Ich hatte nicht wirklich erwartet, deine Kladde dort zu finden«, wendet sie sich direkt an den Schulleiter. »Siegfried Back hat sie schließlich erst gefunden, als er in die Anderswelt gewechselt war. Wie wir wissen, hat er sie später dort im Nebelwald entdeckt. Ich wollte aber sichergehen, dass er zwischenzeitlich keinen Weg hierher zurückgefunden hat. Doch alles in der Wohnung deutete darauf hin, dass er bereits viele Jahre nicht mehr dort gewesen ist. – Es ist kaum zu glauben, dass sich in unbewohnten Räumen eine derart dicke Staubschicht bilden kann. – Ich suchte nach Korrespondenz in der Ablage seines Schreibtisches. Doch darunter befand sich nichts, was uns neue Erkenntnisse verschafft hätte, bis auf …« Morwenna macht eine bewusste Pause, um die Spannung zu erhöhen. Sie greift in ihren weiten Umhang und zieht ein Papier heraus, das unterschiedlich weiß aussieht. »Das lag halb unter einem Buch, das von Sagen und Mythen handelt und ist im Laufe der Jahre etwas verblichen. Das schadet der Notiz aber nicht, die Siegfried Back darauf hinterlassen hat.«
»Was hat er geschrieben?« Anna wagt kaum, zu atmen.
»Bezieht es sich auf die Anderswelt?« Auch Iain klingt aufgeregt.
»Siegfried hat zwar eine Sauklaue, trotzdem ist seine Schrift lesbar. Er schreibt, dass er endlich einen Beweis gefunden hat, dass es die Anderswelt gibt. Er hat einen Zeitungsbericht gelesen, in dem ein Mann behauptet, dort gewesen zu sein. Siegfried schreibt, er will mit dessen Hilfe einen Versuch unternehmen, dorthin zu gelangen. Er hofft, damit eine Art Zeitreise in die Vergangenheit zu machen. Er verspricht sich Erkenntnisse darüber, die ihm in den geführten Auseinandersetzungen zu strittigen Fragen über historische Ereignisse einen Vorteil verschaffen. Dann wird er endlich von seinen Kritikern anerkannt werden müssen.«
Iain Raven nickt versonnen.
»Das passt zu allem, was wir bisher über diesen Mann ermittelt haben. Er war in Auseinandersetzungen mit anderen Wissenschaftlern nicht zimperlich, um seine Meinung zu vertreten. Dafür wurde er schließlich von allen ihren Kongressen ausgeschlossen. Dass er nach dem Wechsel in die unbekannte Welt nicht wieder hierher zurückfand, wäre eine Erklärung für sein mittlerweile bösartiges Wesen.«
»Das könnte passen!«, ist Morwenna überzeugt.
»Das rechtfertigt aber nicht, dass er andere Lebewesen tötet!« Anna zittert vor Empörung. »Auch wenn das keine Entschuldigung ist, könnte er beim Wechsel in die Anderswelt eine Wesensänderung erfahren haben. Das ist eine mögliche Nebenwirkung, wie wir von Ainoa wissen.«
Eine Erklärung
»Du sagtest, du willst dich melden!« Die krächzende Stimme ist zwar leise, aber Anna schreckt beim ersten Ton hoch. Nach der Unterhaltung mit Iain Raven und Morwenna Mulham war es spät geworden, trotzdem hatte sie sofort nach ihrer Rückkehr versucht, Kontakt zu ihrer Freundin aufzunehmen. Bereits im Aufrichten antwortet sie auf den leisen Vorwurf.
»Ainoa. Bitte glaube mir, ich habe das mehrfach probiert!« Im Zimmer ist es bis auf das geringe Mondlicht, das bleich durchs Fenster hereinscheint, dunkel. »Solus! Solus! SOLUS!«, versucht das Mädchen, eine Lichtkugel aufzurufen. Es möchte die Freundin besser erkennen, die als dunkler Schemen zu sehen ist, der auf der Rückenlehne des Schreibtischstuhls hockt. Annas dritter Ausspruch ist lauter als geplant.
»Mach nicht so einen Lärm!«, fordert die Elfe, die Freundin imitierend. »Denk an deine Zimmernachbarn. Du weckst sie sonst noch. Solus!« Dieses Mal erscheint ein Licht, das als Kugel zu Zimmerdecke schwebt.
»Hat mein Spruch jetzt eine verzögerte Wirkung?«
»Davon habe ich nie gehört. Nein, das Licht habe ich aufgerufen!« Ainoa plustert das Gefieder und klappert mit den Augendeckeln. »Bist du krank oder warum scheinen deine magischen Fähigkeiten plötzlich so schwach zu sein?«
»Wäre das eine mögliche Erklärung?« Anna schaut skeptisch zu dem schwarzen Vogel. »Ich fühle mich aber kein bisschen krank. Ich bin nicht fiebrig und habe keine Kopfschmerzen. – Halt. Aber etwas finde ich komisch. Noch im Sommer habe ich mehrfach Migräneattacken gehabt, seitdem jedoch nicht mehr. Sind meine magischen Kräfte dafür die Ursache? Dann muss ich damit rechnen, schon bald wieder unter diesen fürchterlichen Kopfschmerzen