»Was du mit dringender gebraucht umschreibst, bedeutet, dass Vater sich um seine anderen beiden Frauen kümmern muss, die er in der Heimat zurückgelassen hat«, ereiferte sich Mehmet. »Das hast du vorher gewusst, als du dem Islam beigetreten bist. Und wie läufst du eigentlich herum? Es könnte jeden Moment jemand zu Besuch kommen …«
»Dann kann es nur die zahlreiche Verwandtschaft deines Vaters sein, die dürfen mich ohnehin ohne Kopftuch sehen. Es heißt: Die gläubigen Frauen sollen ihren Schleier auf den Kleiderausschnitt schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, es sei denn ihren Ehegatten, ihren Vätern, den Vätern ihrer Ehegatten, ihren Söhnen, den Söhnen ihrer Ehegatten, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und den Söhnen ihrer Schwestern, ihren Frauen, den männlichen Gefolgsleuten, die keinen Trieb mehr haben, den Kindern, die die Blöße der Frauen nicht beachten. Und wenn es einer deiner Freunde ist, die man allesamt nicht mehr als Kinder, die die Blöße der Frauen nicht beachten, bezeichnen kann … denen wirst du öffnen, derweil ich mich bedecke.«
»Und wenn ein Fremder an die Tür kommt?«
»Der wird eben einen Moment warten müssen. Außerdem, ich habe den Qur’an (Koran) auch gelesen, mein Sohn. Keine der drei infrage kommenden Verse bietet einen eindeutigen Anhaltspunkt, dass Frauen ein Kopftuch oder einen gesichtsverhüllenden Schleier tragen sollen. Die eine Stelle in Sure 24, 31 betrifft sowohl Männer als auch Frauen und zielt auf Schicklichkeit und Protzerei, indem Frauen nahegelegt wird, einen himar Schal zu tragen, der alles, bis auf das verdeckt, was bei Wahrung der Keuschheit sichtbar sein darf. Weiterhin wird Frauen nahegelegt, ihren Schmuck mit Zurückhaltung zu tragen. Aber daraus lässt sich nicht das Tragen einer Verdeckung oder gar die Verdeckung des gesamten Gesichts ableiten.
In der Sure 33, 59 heißt es an einer Stelle, dass die Frauen ein gilbab Gewand tragen sollen, damit sie als verehelicht „erkannt“ und nicht belästigt werden.
Die dritte Stelle befindet sich in Sure 33, 53 und bezieht sich lediglich auf die Frauen des Propheten, indem gefordert wird, dass Gäste im Hause des Propheten, wenn sie dessen Frauen um etwas bitten, dies hinter einer higab Abschirmung tun sollen. Damit war eine Trennwand gemeint und keineswegs ein Kleidungsstück. So sieht es aus. Auch ich habe meine Hausaufgaben gemacht.«
Mehmet, der immer noch ärgerlich über die Störung seiner erotischen Fantasien war, blieb keine Antwort schuldig.
»Fest steht, dass klassische Qur’an-Interpreten darauf beharren, dass es eine religiöse Pflicht für Muslimas ist, ein Kopftuch oder eine andere Verschleierung zu tragen. Vater will das so, und ich auch. Während seiner Abwesenheit vertrete ich ihn eh als Familienoberhaupt.«
»Ja, ist ja schon gut. Ich wollte nur darauf hinweisen.«
Paul Schütterer war viel früher aus dem Urlaub zurück-gekehrt als erwartet. Dementsprechend schlecht gelaunt war er, was sein gereizter Gesichtsausdruck und das nervöse Zucken um seine Mundwinkel verrieten. Sein dünnes Haupthaar gab bereits große Teile seiner Kopfhaut frei. Deshalb wurde hinter vorgehaltener Hand gerne gewitzelt: „Paul wird auch immer schütterer“. Nur heute hätte sich das niemand aus Angst vor den Folgen gewagt.
»So früh haben wir Sie gar nicht zurückerwartet, Chef«, sagte Hinnerk und Valerie lächelte ihm freundlich zu.
»Das kann ich mir denken«, blaffte Schütterer. »Da hat man kaum den Arsch aus der Tür bewegt, und schon tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Was habt ihr euch eigentlich beide dabei gedacht, unerlaubt in Italien zu ermitteln? Wir sind zum Gespött der Presse geworden. Die Neue Südtiroler Tageszeitung schreibt:
„Deutsche Kommissare in zweifachen Mordfall verwickelt. Die mutmaßliche Täterin musste dabei sterben.“
Und die Dolomiten - ehemals Der Tiroler - überschlagen sich ebenfalls.
„Südtirolerin schießt mit der Dienstwaffe eines deutschen Kommissars auf italienische Polizisten“,
heißt es da. Ich glaube, euch hat man ins Gehirn geschissen. Mir wird weisgemacht, einen Erholungsurlaub antreten zu wollen … ich habe leider versäumt, Ihnen vorher die Dienstwaffe und den –Ausweis abzunehmen, Herr Lange. So wie ich es bei Ihrer Kollegin Frau Voss getan habe. Und die hat nichts Besseres zu tun, als Ihnen nachzureisen. Dabei war sie kurz zuvor gerade erst selber mit einem blauen Auge davongekommen. Also, mir fehlen die Worte.«
»Dafür war Ihre Rede ziemlich lang«, sagte Valerie, »vielleicht darf ich erklären?«
»Nein, das dürfen Sie nicht. Es gibt nichts zu erklären. Die Tatsachen sprechen für sich. Sie wollten die Lobrecht fassen und sind ihr in die Falle getappt. Es ist nicht erst seit heute bekannt, dass diese Geisteskranken einen enormen Scharfsinn und eine abgrundtiefe Verschlagenheit entwickeln können. Um ein Haar hätte ich zwei meiner besten, aber leider auch unbelehrbaren, Mitarbeiter verloren.«
»Chef, ich hatte Grund zur Annahme, dass Elvira Lobrecht ihre Mutter umbringen wollte«, wagte Hinnerk einen Einwand. »Das hat sie dann ja auch getan, und ihre Großmutter gleich dazu. Ich wollte verhindern, dass …«
»Wir sind in erster Linie dazu da, Verbrechen aufzuklären«, unterbrach ihn Schütterer, »wenn wir auch noch alle, die eventuell ausgeführt werden, verhindern wollten, wären wir auf verlorenem Posten.«
»Und was ist mit der Pflicht, Straftaten zu verhüten?«, fragte Hinnerk nach.
»Papperlapapp, das war in diesem Fall die Aufgabe der zuständigen Kollegen in Südtirol. Egal, was Sie noch an Ausreden anführen wollen, Tatsache ist, Sie haben unerlaubter Weise Ihre Dienstwaffe mit in die Ferien genommen. Und damit ist geschossen worden, sogar auf Polizisten. Wenn Sie nicht so ein unerhörtes Schwein gehabt hätten, zu dieser Zeit in einer Grube gefangen gehalten zu werden wie die Maus in der Falle, wäre es schwer zu beweisen gewesen, dass nicht Sie, sondern die Lobrecht geschossen hat. In diesem Falle hätten die Schlagzeilen dann wohl gelautet: „Deutscher Kommissar schießt auf italienische Kollegen.“ Das hätte einen Skandal erster Güte gegeben.«
Hinnerk wagte nicht, erneut zu widersprechen, denn er hätte auf die Schmauchspuren hinweisen können, die nicht an seinen Händen, sondern an denen der Lobrecht sichergestellt worden wären, wenn nicht ohnehin die Carabinieri ihr Auge in Auge gegenüber gestanden hätten. Aber weil er genau wusste, wie sein Chef es meinte, schluckte er alles herunter.
»Und für Sie gilt das Gleiche, Frau Voss. Auch Sie führen eine Dienstwaffe im Urlaubsort bei sich und ballern damit wild aus dem Kellerloch durch die Abdeckung. Auch Sie können von Glück sagen, dass dabei kein italienischer Polizist verletzt worden ist, denn wenigstens waren Sie so umsichtig, diese vorher zu Hilfe zu rufen.«
»Die Lobrecht hat gedroht uns umzubringen«, sagte Valerie, »also war es Notwehr, wenn Sie so wollen. Nachdem Sie sich nun gründlich ausgekotzt haben, wäre es an der Zeit, zu erwähnen, dass mit unserer Hilfe vier Mordfälle aufgeklärt worden sind.«
»Was erlauben Sie sich für einen Ton mir gegenüber? Die Dame entwickelt kein Schuldbewusstsein und will auch noch gelobt werden. Ich glaube, ich stehe im Wald.«
»Meine Kollegin meint es nicht so, Sie kennen doch ihre impulsive Art.«
»Sie brauchen sich gar nicht als Kavalier aufzuspielen. Es ist inzwischen ein offenes Geheimnis, dass Sie beide mehr als das Büro teilen …«
»Ja, auch das Bett, wenn Sie es genau wissen wollen«, schrie Valerie und sprang auf. »Dann suspendieren Sie mich doch. Es wäre ja nicht das erste Mal. Aber mein Privatleben geht Sie einen Scheiß an.« Damit verließ sie türenknallend das Büro.
»Also, das ist doch …« Schütterer schnappte förmlich nach Luft.
»Entschuldigen Sie, Chef. Es war alles ein bisschen viel für Valerie in letzter Zeit.«
»Das rechtfertigt kein derartiges Benehmen … ich werde mir überlegen, ob ich die entsprechenden Schritte