Die Welt von gestern. Stefan Zweig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Zweig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746751832
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uns an Schauspieler und kleine Statisten heran, um zuerst – vor den andern! – den Gang der Handlung und die Besetzung zu erfahren; wir ließen uns (ich scheue mich nicht, auch unsere Absurditäten zu berichten) die Haare bei dem Burgtheaterfriseur schneiden, nur um eine geheime Nachricht zu ergattern über die Wolter oder Sonnenthal, und ein Schüler aus einer niederen Klasse wurde von uns Älteren besonders verwöhnt und mit allerlei Aufmerksamkeiten bestochen, nur weil er der Neffe eines Beleuchtungsinspektors der Oper war und wir durch ihn manchmal zu den Proben heimlich auf die Bühne geschmuggelt wurden – diese Bühne, die zu betreten den Schauer Dantes übertraf, als er aufstieg in die heiligen Kreise des Paradieses. So stark war für uns die strahlende Kraft des Ruhms, daß er, selbst wenn durch siebenfaches Medium gebrochen, uns noch Ehrfurcht abzwang; ein armes, altes Weibchen erschien uns, weil eine Großnichte Franz Schuberts, wie ein überweltliches Wesen, und selbst dem Kammerdiener von Joseph Kainz sahen wir respektvoll auf der Straße nach, weil er das Glück hatte, diesem geliebtesten und genialsten Schauspieler persönlich nahe sein zu dürfen.

      Ich weiß natürlich heute genau, wieviel Absurdität in diesem wahllosen Enthusiasmus steckte, wieviel bloß gegenseitige Nachäfferei, wieviel bloß sportliche Lust, sich zu übertrumpfen, wieviel kindische Eitelkeit, sich durch Beschäftigung mit der Kunst über die banausische Umwelt der Verwandten und Lehrer hochmütig erhaben zu fühlen. Aber noch heute bin ich erstaunt, wieviel wir jungen Burschen durch diese Überspannung der literarischen Leidenschaft damals gewußt haben, wie frühzeitig wir uns kritische Unterscheidungsfähigkeit durch dies ununterbrochene Diskutieren und Zerfasern angeeignet haben. Ich kannte mit siebzehn Jahren nicht nur jedes Gedicht Baudelaires oder Walt Whitmans, sondern wußte die wesentlichen auswendig und glaube, in meinem ganzen späteren Leben nicht mehr so intensiv gelesen zu haben wie in diesen Schul und Universitätsjahren. Namen waren uns selbstverständlich geläufig, die in der Allgemeinheit erst ein Jahrzehnt später gewürdigt wurden, selbst das Ephemerste blieb, weil mit solchem Eifer ergriffen, im Gedächtnis. Einmal erzählte ich meinem verehrten Freunde Paul Valéry, wie alt eigentlich meine literarische Bekanntschaft mit ihm sei; ich hätte vor dreißig Jahren schon Verse von ihm gelesen und geliebt. Valéry lachte mir gutmütig zu: »Schwindeln Sie nicht, lieber Freund! Meine Gedichte sind doch erst 1916 erschienen.« Aber dann staunte er, als ich ihm haargenau in Farbe und Format die kleine literarische Zeitschrift beschrieb, in der wir 1898 in Wien seine ersten Verse gefunden. »Aber die hat doch kaum jemand in Paris gekannt«, sagte er verwundert, »wie konnten Sie sich die denn in Wien beschafft haben?« »Genauso, wie Sie sich als Gymnasiast in Ihrer Provinzstadt die Gedichte Mallarmés, die die offizielle Literatur ebensowenig kannte«, konnte ich ihm antworten. Und er stimmte mir zu: »Junge Leute entdecken sich ihre Dichter, weil sie sich sie entdecken wollen.« Wir witterten in der Tat den Wind, noch ehe er über die Grenze kam, weil wir unablässig mit gespannten Nüstern lebten. Wir fanden das Neue, weil wir das Neue wollten, weil wir hungerten nach etwas, das uns und nur uns gehörte, – nicht der Welt unserer Väter, unserer Umwelt. Jugend besitzt wie gewisse Tiere einen ausgezeichneten Instinkt für Witterungsumschläge, und so spürte unsere Generation, ehe es unsere Lehrer und die Universitäten wußten, daß mit dem alten Jahrhundert auch in den Kunstanschauungen etwas zu Ende ging, daß eine Revolution oder zumindest eine Umstellung der Werte im Anbeginn war. Die guten, soliden Meister aus der Zeit unserer Väter – Gottfried Keller in der Literatur, Ibsen in der Dramatik, Johannes Brahms in der Musik, Leibl in der Malerei, Eduard von Hartmann in der Philosophie – hatten für unser Gefühl die ganze Bedächtigkeit der Welt der Sicherheit in sich; trotz ihrer technischen, ihrer geistigen Meisterschaft interessierten sie uns nicht mehr. Instinktiv fühlten wir, daß ihr kühler, wohltemperierter Rhythmus fremd war dem unseres unruhigen Bluts und auch schon nicht mehr im Einklang mit dem beschleunigten Tempo der Zeit. Nun lebte gerade in Wien der wachsamste Geist der jüngeren deutschen Generation, Hermann Bahr, der für alles Werdende und Kommende sich als geistiger Raufbold wütend herumschlug, mit seiner Hilfe wurde in Wien die ›Sezession‹ eröffnet, die zum Entsetzen der alten Schule aus Paris die Impressionisten und die Pointillisten, aus Norwegen Munch, aus Belgien Rops und alle denkbaren Extremisten ausstellte; damit war zugleich ihren mißachteten Vorgängern Grünewald, Greco und Goya die Bahn gebrochen. Man lernte plötzlich ein neues Sehen und gleichzeitig in der Musik neue Rhythmen und Tonfarben durch Mussorgskij, Debussy, Strauss und Schönberg; in die Literatur brach mit Zola und Strindberg und Hauptmann der Realismus, mit Dostojewskij die slawische Dämonie, mit Verlaine, Rimbaud, Mallarmé eine bisher unbekannte Sublimierung und Raffinierung lyrischer Wortkunst. Nietzsche revolutionierte die Philosophie; eine kühnere, freiere Architektur proklamierte, statt der klassizistischen Überladenheit, den ornamentlosen Zweckbau. Plötzlich war die alte, behagliche Ordnung gestört, ihre bisher als unfehlbar geltenden Normen des ›ästhetisch Schönen‹ (Hanslick) in Frage gestellt, und während die offiziellen Kritiker unserer ›soliden‹ bürgerlichen Zeitungen über die oft verwegenen Experimente sich entsetzten und mit den Bannworten ›dekadent‹ oder ›anarchisch‹ die unaufhaltsame Strömung zu dämmen suchten, warfen wir jungen Menschen uns begeistert in die Brandung, wo sie am wildesten schäumte. Wir hatten das Gefühl, daß eine Zeit für uns, unsere Zeit begann, in der endlich Jugend zu ihrem Recht kam. So erhielt mit einemmal unsere unruhig suchende und spürende Leidenschaft einen Sinn: wir konnten, wir jungen Menschen auf der Schulbank, mitkämpfen in diesen wilden und oft rabiaten Schlachten um die neue Kunst. Wo ein Experiment versucht wurde, etwa eine WedekindAufführung, eine Vorlesung neuer Lyrik, waren wir unfehlbar zur Stelle mit aller Kraft nicht nur unserer Seele, sondern auch noch unserer Hände; ich war Zeuge, wie bei einer Erstaufführung eines der atonalen Jugendwerke Arnold Schönbergs, als ein Herr heftig zischte und pfiff, mein Freund Buschbeck ihm eine ebenso heftige Ohrfeige versetzte; überall waren wir die Stoßtruppe und der Vortrupp jeder Art neuer Kunst, nur weil sie neu war, nur weil sie die Welt verändern wollte für uns, die jetzt an die Reihe kamen, ihr Leben zu leben. Weil wir fühlten, ›nostra res agitur‹.

      Aber es war noch etwas anderes, was uns an dieser neuen Kunst so maßlos interessierte und faszinierte: daß sie fast ausschließlich eine Kunst junger Leute war. In der Generation unserer Väter kam ein Dichter, ein Musiker erst zu Ansehen, wenn er sich ›erprobt‹, wenn er sich der gelassenen, der soliden Geschmacksrichtung der bürgerlichen Gesellschaft angepaßt hatte. Alle die Männer, die zu respektieren man uns gelehrt hatte, benahmen und gebärdeten sich respektabel. Sie trugen ihre schönen, graumelierten Bärte – Wilbrandt, Ebers, Felix Dahn, Paul Heyse, Lenbach, diese heute längst verschollenen Lieblinge jener Zeit – über poetischen Samtjacken. Sie ließen sich mit sinnendem Blick photographieren, immer in ›würdiger‹ und ›dichterischer‹ Haltung, sie benahmen sich wie Hofräte und Exzellenzen und wurden wie diese mit Orden geschmückt. Junge Dichter oder Maler oder Musiker aber wurden bestenfalls als ›hoffnungsvolle Talente‹ vermerkt, eine positive Anerkennung dagegen vorläufig in den Eisschrank gelegt; jenes Zeitalter der Vorsicht liebte es nicht, vorzeitig eine Gunst auszuteilen, ehe man nicht durch langjährige ›solide‹ Leistung sich bewährt hatte. Die neuen Dichter, Musiker, Maler aber waren alle jung; Gerhart Hauptmann, plötzlich aus völliger Namenlosigkeit aufgetaucht, beherrschte mit dreißig Jahren die deutsche Bühne, Stefan George, Rainer Maria Rilke hatten mit dreiundzwanzig Jahren – also früher, als man nach dem österreichischen Gesetz für mündig erklärt wurde – literarischen Ruhm und fanatische Gefolgschaft. In unserer eigenen Stadt entstand über Nacht die Gruppe des ›jungen Wien‹ mit Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Richard BeerHofmann, Peter Altenberg, in denen die spezifisch österreichische Kultur durch eine Verfeinerung aller Kunstmittel zum erstenmal europäischen Ausdruck fand. Aber vor allem war es eine Gestalt, die uns faszinierte, verführte, berauschte und begeisterte, das wunderbare und einmalige Phänomen Hugo von Hofmannsthals, in dem unsere Jugend nicht nur ihre höchsten Ambitionen, sondern auch die absolute dichterische Vollendung in der Gestalt eines beinahe Gleichaltrigen sich ereignen sah.

      Die Erscheinung des jungen Hofmannsthal ist und bleibt denkwürdig als eines der großen Wunder früher Vollendung; in der Weltliteratur kenne ich bei solcher Jugend außer bei Keats und Rimbaud kein Beispiel ähnlicher Unfehlbarkeit in der Bemeisterung der Sprache, keine solche Weite der ideellen Beschwingtheit, kein solches Durchdrungensein mit poetischer Substanz bis in die zufälligste Zeile, wie in diesem großartigen Genius, der schon in seinem sechzehnten und siebzehnten Jahr sich mit unverlöschbaren Versen und einer noch heute nicht überbotenen