Götzen-Dämmerung. Friedrich Wilhelm Nietzsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Wilhelm Nietzsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783750290150
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der Unbedenklichen? – Aber mit der Tugend verzichtet man auf »Vorteile«... (einem Antisemiten an die Haustür).

      20

      Das vollkommene Weib begeht Literatur, wie es eine kleine Sünde begeht: zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es jemand bemerkt und daß es jemand bemerkt...

      21

      Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Scheintugenden haben darf, wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt oder steht – oder davon kommt...

      22

      »Böse Menschen haben keine Lieder.« – Wie kommt es, daß die Russen Lieder haben?

      23

      »Deutscher Geist«: seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.

      24

      Damit, daß man nach den Anfängen sucht, wird man Krebs. Der Historiker sieht rückwärts; endlich glaubt er auch rückwärts.

      25

      Zufriedenheit schützt selbst vor Erkältung. Hat je sich ein Weib, das sich gut bekleidet wußte, erkältet? – Ich setze den Fall, daß es kaum bekleidet war.

      26

      Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.

      27

      Man hält das Weib für tief – warum? weil man nie bei ihm auf den Grund kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach.

      28

      Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine männlichen Tugenden hat, so läuft es selbst davon.

      29

      »Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beißen! welche guten Zähne hatte es! – Und heute? woran fehlt es?« – Frage eines Zahnarztes.

      30

      Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung tut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine zweite – und nunmehr tut man zu wenig...

      31

      Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demut.

      32

      Es gibt einen Haß auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren Ehrbegriff; es gibt einen ebensolchen Haß aus Feigheit, insofern die Lüge, durch ein göttliches Gebot, verboten ist. Zu feige, um zu lügen...

      33

      Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.

      34

      On ne peut penser et écrire qu'assis (G. Flaubert). – Damit habe ich dich, Nihilist! Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.

      35

      Es gibt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in Unruhe geraten: wir sehen unsern eignen Schatten vor uns auf- und niederschwanken. Der Psychologe muß von sich absehn, um überhaupt zu sehn.

      36

      Ob wir Immoralisten der Tugend Schaden tun? – Ebensowenig, als die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Throne.

      Moral: man muß die Moral anschießen.

      37

      Du läufst voran? – Tust du das als Hirt? oder als Ausnahme? Ein dritter Fall wäre der Entlaufene...

      Erste Gewissensfrage.

      38

      Bist du echt? oder nur ein Schauspieler? Ein Vertreter? oder das Vertretene selbst? – Zuletzt bist du gar bloß ein nachgemachter Schauspieler... Zweite Gewissensfrage.

      39

      Der Enttäuschte spricht. – Ich suchte nach großen Menschen, ich fand immer nur die Affen ihres Ideals.

      40

      Bist du einer, der zusieht? oder der Hand anlegt? – oder der wegsieht, beiseite geht... Dritte Gewissensfrage.

      41

      Willst du mitgehn? oder vorangehn? oder für dich gehn?.. Man muß wissen, was man will und daß man will. – Vierte Gewissensfrage.

      42

      Das waren Stufen für mich, ich bin über sie hinaufgestiegen – dazu mußte ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen...

      43

      Was liegt daran, daß ich recht behalte! Ich habe zu viel recht. – Und wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt.

      44

      Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel...

      Das Problem des Sokrates

       1

      Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurteilt: es taugt nichts... Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben Klang gehört – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermut, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates sagte, als er starb: »leben – das heißt lange krank sein: ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig«. Selbst Sokrates hatte es satt. – Was beweist das? Worauf weist das? – Ehemals hätte man gesagt (– oh, man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!): »Hier muß jedenfalls etwas wahr sein! Der consensus sapientium beweist die Wahrheit.« – Werden wir heute noch so reden? dürfen wir das? »Hier muß jedenfalls etwas krank sein« – geben wir zur Antwort: diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe ansehn! Waren sie vielleicht allesamt auf den Beinen nicht mehr fest? spät? wackelig? décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert?...

       2

      Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, daß die großen Weisen Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurteil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch (»Geburt der Tragödie« 1872). Jener consensus sapientium – das begriff ich immer besser – beweist am wenigsten, daß sie recht mit dem hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, daß sie selbst, diese Weisesten, irgendworin physiologisch übereinstimmten, um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn – stehn zu müssen. Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht – an sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger danach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem anderen Grunde. – Von Seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem sehn, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit. – Wie? und alle diese großen Weisen – sie wären nicht nur décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen? – Aber ich komme auf das Problem des Sokrates zurück.

       3

      Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel. Man weiß, man sieht es selbst