Wir hörten, wie die Rothüte ins Lager drangen und Shamandras Gefährten nach uns ausfragten. Pauline lag mit ihrem Kopf in meinen Schoß gebettet und presste die Lippen aufeinander, um nicht vor Schmerzen, die ihr der Arm bereitete, aufzuschreien. "Hier ist niemand entlang gekommen", lauschten wir dem Dialog zwischen den Zauberern und Shamandras Mutter, "und ich würde doch wohl meine eigene Tochter erkennen, wenn sie an mir vorbeiliefe. Was habt Ihr mit ihr gemacht? Wieso seid Ihr hinter ihr her?" - "Die Fragen stellen wir", blaffte der Zauberer, "und wenn du nicht hören willst, wirst du deiner Tochter im Kerker gleich Gesellschaft leisten." Ihre Schatten tanzten auf der Zeltwand auf und ab. Ich tauschte mit Erwin angespannt die Blicke aus. Pauline schien das Bewusstsein verloren zu haben. Endlich ließen die Rothüte von den Zigeunern ab und verschwanden. Erleichtert atmete Shamandra auf. "Zum Glück!" Sie stürmte nach draußen. "Danke, Ma!" - "Du bist mir einiges an Erklärungen schuldig, Teufelslocke!" - "Später, Ma, zuerst brauchen wir Hilfe. Jemand wurde von einem Fluchzauber getroffen. Wir brauchen Medizin. Oder einen Zauberstab. Aber ich schätze, so etwas besitzen wir nicht." - "Zauberstab?", wiederholte Shamandras Mutter verwirrt, reichte uns aber Arznei ins Zelt. "Das ist eine Salbe aus Silberhirschfett", erklärte sie, "die müsste helfen, den Schmerz zu mildern." - "Danke", sagte ich und rieb Paulines Arm ein, der immer noch gräulich glänzte. Die Wunde selbst war blutrot und eitrig. "Was machen wir denn jetzt?", fragte Yuri besorgt in die Runde. "Ich meine, wir müssen den Fluch aufheben…" - "Alles zu seiner Zeit, Yuri", sagte ich, bemüht, ruhiger zu wirken, als ich war, "Erwin und ich brauchen dringend Zauberstäbe, damit wir uns verteidigen und den Fluch rückgängig machen können." - "Zauberer also", stellte Shamandras Mutter wenig erfreut fest. "Sie sind Verbündete Balthaszars", erklärte Shamandra zugleich. "Nun gut", erwiderte ihre Mutter, wirkte aber immer noch etwas misstrauisch. Ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit kurzen, rabenschwarzen Locken steckte den Kopf ins Zelt herein. "Was geht da vor sich, Lundira? Wer sind die Fremden, und was wollten die Rothüte hier?" - "Keine Aufregung, Nando. Die Fremden sind uns gut gesinnt, sagt Shamandra, und sie sind mit ihr gemeinsam aus dem Gefängnis entflohen." - "Das war mir klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich unsere Tochter wieder beim Stehlen erwischen lässt", sagte der Mann namens Nando genervt. "Was war es denn diesmal, Teufelslocke?" Shamandra seufzte tief. "Den neuen Ring der Königin." Lundira schlug sich die Hand vor den Mund. "Shamandra…!" - "Was denn? Sie wollte einen neuen haben, weil ihr der alte anscheinend nicht gut genug ist, und in Abeytu wollte sie ihn anfertigen lassen, da hab ich mir gedacht, den braucht sie ja gar nicht, sie hat ja schon einen, und wir könnten ihn für ein Vermögen verkaufen..." - "Dafür hättest du an den Galgen kommen können!", rief Nando entrüstet. "Ich weiß, Pa", sagte Shamandra leise. "Du musst vorsichtiger sein! Bei allen Göttern, was ist bei der Geburt dieses Kindes bloß falsch gelaufen?" Er verschwand wieder nach draußen. Pauline gab einen leisen Klagelaut von sich. Dann öffnete sie schließlich die Augen.
Kapitel 12 - PAULINES GEHEIMNIS
Das erste, das ich sah, als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, war das schmale, lange Gesicht von Mendrick. Er musterte mich sorgenvoll. "Wie fühlst du dich?", fragte er. Ich setzte mich langsam auf. Ein bisschen drehte sich noch alles. "Es geht schon", sagte ich. In diesem Moment durchfuhr ein stechender Schmerz meinen rechten Arm und ich ächzte auf. Erst jetzt riskierte ich einen Blick auf die Stelle, wo mich der Fluchzauber gestreift hatte. Die Haut rund um die Wunde herum wirkte abgestorben und grau. Die Wunde selbst war purpurrot und brannte entsetzlich. "Wo sind wir eigentlich?", brachte ich hervor. "Im Zigeunerlager", sagte die dunkelhaarige, zierliche Frau, die bei uns saß. "Ich bin Lundira, Shamandras Mutter." Sie wandte sich an Erwin und Mendrick. "Ihr solltet schleunigst zusehen, dass ihr irgendwo Zauberstäbe ergattert. Die Silberhirschfettsalbe hilft nur vorübergehend." - "Es gibt einen Zauberstabladen am Fuße des Wollhügels, so weit ich weiß", meinte Shamandra, "vielleicht findet ihr dort etwas Passendes." - "In unserem jetzigen Aufzug können wir allerdings nirgends hingehen", warf Erwin ein, "man würde uns womöglich erkennen." - "Zieht doch Kleider von uns an", schlug Lundira vor. So geschah es auch. Mendrick und Erwin sahen in den bunten Zigeunerklamotten wirklich fremd und ungewöhnlich aus. Erwin hatte man seinen Schnauzbart abrasiert, was ihn jünger wirken ließ. Die Schmerzen in meinem Arm hatten nachgelassen, bewegen konnte ich ihn aber immer noch nicht. "Lasst uns aufbrechen", sagte Mendrick, "je früher wir an Zauberstäbe kommen, desto besser. Die Zauberei im Kerker war mir nicht ganz geheuer." Ich sagte nichts. Shamandra begleitete Erwin und Mendrick, während Yuri im Lager blieb. Lundira brachte uns dicke Decken aus Gänsedaunen, denn es war kälter geworden. Schnee war am heutigen Tag aber noch nicht gefallen. "Wo übernachtest du mit deinem Mann und Shamandra, wenn wir euer Zelt haben?", fragte Yuri. "Keine Sorge", antwortete Lundira, "wir schlafen einfach bei meinem Bruder und seiner Frau im Zelt, das ist in Ordnung so. Wenn ihr etwas braucht, meldet euch." Sie ließ uns allein im Zelt zurück. Yuri trug noch etwas Salbe auf meinen verwundeten Arm auf und schien dabei jeden Blickkontakt mit mir zu vermeiden. Ich hatte das Gefühl, dass ihm irgendetwas auf dem Herzen lag. "Bedrückt dich etwas, Yuri?", wollte ich wissen. Die Salbe kühlte meine brennende Wunde. "Um ehrlich zu sein, gibt es da tatsächlich was, worüber ich die ganze Zeit nachgedacht habe", erwiderte Yuri. "Und das wäre?", fragte ich. "Du", sagte er, "ich habe über dich nachgedacht." - "Über mich?" - "Ja." Jetzt sahen mich seine türkisgrünen, mandelförmigen Augen direkt an. "Du warst das im Kerker", sagte er schließlich. Mein Gesicht wurde heiß. "Was meinst du? Ich weiß nicht, wovon du sprichst." - "Nicht Mendrick hat die Gitterstäbe des Fensters zum Bersten gebracht. Du bist das gewesen." - "Du redest Unsinn! Ich bin ja keine Zauberin, Yuri…" - "Nein. Eine Hexe." Mein Herz hörte für einen kurzen Augenblick auf zu schlagen. "Nein", beteuerte ich dann hastig, "das bin ich nicht." - "Ich weiß aber, dass du eine bist, Pauline." Meine Hände wurden schwitzig, so angespannt war ich. "Ich habe gesehen, dass du es warst, die den Zauber vollbracht hat", sagte Yuri ruhig, "es war deine magische Energie, die übergesprungen ist. Nicht Mendricks." - "Woher willst du das wissen?" - "Ich sah es in deinen Augen, Pauline. Augen lügen nicht." Ich wandte mich ab. "Das ist doch Unsinn." - "Sieh mich an und sag mir ins Gesicht, dass ich unrecht habe. Dann werde ich nie wieder ein Wort darüber verlieren." Ich schüttelte nur den Kopf. "Mach schon, Pauline", sagte Yuri, "du würdest mich doch nicht anlügen, nicht wahr?" Jetzt sah ich ihn an. "Nein", sagte ich. "Also", antwortete er, "ich denke, dass du eine Hexe bist.