Überhaupt hatte sich in den letzten Monaten ihr Leben drastisch geändert. War es vorher von Langeweile und Nichtstun geprägt, so gab es nun täglich Trainingseinheiten, Waffenübungen oder Erkundungsaufträge.
Rayan war unermüdlich auf den Beinen, um die Beziehungen zu den umliegenden Stämmen in seinem Sinne zu beeinflussen. Alle hatten von ihm und seinen Taten während des Kampfes gehört, weshalb er von einigen bereits mit entsprechender Ehrfurcht empfangen wurde. Diejenigen, die misstrauischer waren, überzeugte er aber ebenfalls bald.
Sein Name war in aller Munde. Niemals zuvor war es einen anderen Scheich gelungen, so intensive Beziehungen zu seinen Nachbarn aufzunehmen.
Eine weitere bemerkenswerte Veränderung im Leben der Tarmanen war die Konsequenz, mit der ihr neuer Scheich seine Entscheidungen und Anordnungen durchsetzte. Ganz wie er es zu Anfang prophezeit hatte, hatte er strenge Regeln, auf deren Einhaltung er bestand. Zuwiderhandlungen wurden bestraft.
Interessanterweise sahen ihn seine Männer deshalb trotzdem nicht als Despoten an. Das lag zum einen an seiner Ausstrahlung, mit der es ihm gelang, innerhalb kürzester Zeit, die Krieger für sich einzunehmen. Zum Zweiten lag es daran, dass sie sahen, dass auch er nach den gleichen Regeln lebte. Er forderte nichts, was er nicht auch selbst leistete. Weil er stets auf ihre Sicherheit bedacht war und kaum zu schlafen schien, konnte es ihm niemand übel nehmen, dass er vor allem Nachlässigkeiten bei den Wachposten ahndete. Wehe demjenigen, der während einer Wache einschlief!
Den Tarmanen war auch klar, was sie Rayan in Bezug auf Kampffertigkeit zu verdanken hatten. Auf einmal hatten sie statt alter Gewehre völlig neue Waffen. Ihr Scheich gab sich viel Mühe, für jeden einzelnen der Männer die Waffe zu finden, mit der er am besten war. Und in fast allen Kampftechniken überragte er sie um Längen. Kein Wunder, denn in den letzten Jahren hatten sie selbst nur sehr wenig dazu getan, fit zu bleiben.
September 2014 – Irgendwo in den Bergen von Zarifa – Jede Minute zählt
Am folgenden Morgen standen Rayan und Hanif bei Tagesanbruch auf und ritten in Richtung der Oase von Zarifa.
Hanif hatte zuvor mit Nihat telefoniert, der ihm bestätigt hatte, dass sie ebenfalls im Morgengrauen aufgebrochen waren. Nihat wusste freilich nicht, warum er das so genau wissen wollte. Er hielt es für Besorgnis um das Wohlergehen Carinas. Vorsorglich hatten sie ihm nichts davon erzählt, dass sie nur wenige Stunden hinter ihnen ritten.
Die Männer, die derzeit Wache in der Oase hatten, staunten nicht schlecht, als so kurz nach dem Aufbruch ihrer Stammesgenossen mit dem wichtigen Gast des Herrschers, ihr Scheich selbst sie besuchen kam. Aber nachdem er ihnen gegenüber keine Rechenschaft abzulegen hatte, wagte es niemand, weiter nachzufragen.
Hanif und Rayan rasteten nur kurz, ab jetzt würden sie schnell sein müssen, um Nihats Trupp zu überholen. Dafür mussten sie die Pferde zum Äußersten antreiben.
Sie füllten beide ein letztes Mal ihre Wasserschläuche bis zum Äußersten und ritten dann in die bereits vor Hitze flimmernde Luft der Wüste hinaus.
Die übliche Mittagspause, die Nihat eisern einhielt, um sowohl Carina, als auch die Pferde zu schonen, sorgte dafür, dass Hanif und Rayan bald den Rückstand von wenigen Stunden aufgeholt hatten.
Mit Hilfe von Cho, der sowohl ihren, als auch Nihats GPS Sender im Auge behielt, fiel es ihnen nicht schwer, in wenigen Hundert Metern an dem Trupp vorbei zu reiten. Sie hielten sich dabei im Schutze der großen Sanddünen, die in diesem Teil der Wüste stellenweise wie kleine Gebirge hoch sein konnten. Nihat bemerkte einmal eine Sandwolke zu ihrer Linken, doch konnten das auch wilde Kamele oder andere Tiere sein. Er würde für die Nacht zur Sicherheit die Wachen besonders sensibilisieren.
Wiederum war es Cho, der es ihnen sagte, als Nihat gegen Abend eine geeignete Senke zum Übernachten gefunden hatte und seine Begleiter anhalten ließ.
Dies nutzten Rayan und Hanif, um noch zwei Stunden weiter, bis in die Dunkelheit hinein, zu reiten. Das war ein gefährliches Unterfangen, da weder die Pferde noch die Reiter alles sehen konnten und die meisten Tiere der Wüste nachts aktiv waren. Aber Rayan und Hanif hatten beide diese Strecke schon des Öfteren zurückgelegt. Sie kannten sie daher sehr gut und auch das Licht des Mondes half ihnen.
Vorsichtshalber machten sie in dieser Nacht kein Feuer an und legten sich stattdessen nahe bei den Pferden hin, deren Instinkt durch das Leben in der Wildnis so gut ausgeprägt war, dass sie herannahende Gefahr viel besser wahrnahmen, als die Männer.
Bereits nach wenigen Stunden und weit vor dem Morgengrauen waren sie wieder unterwegs. Vor ihnen lag der vierte Tag seit dem Aufbruch von Carina aus Zarifa, seit dem Tag an dem Rayan die E-Mail bekommen hatte.
Der Tag verging ereignislos, sie trieben die Pferde an, so gut es ging. Eine Nachfrage bei Julie ergab erfreulicherweise keine Neuigkeiten, die Erpresser verhielten sich still und schienen den Wechsel des E-Mail-Verfassers nicht bemerkt zu haben. Cho berichtete, dass sie Nihat immer weiter abgehängt hatten, sodass das Risiko eines Zusammentreffens gegen null gegangen war.
Am Abend telefonierte Rayan mit Harun, der ihm den Plan für den folgenden Morgen nochmals bestätigte – alles war vorbereitet. Danach schliefen die beiden beruhigt wenige Stunden und ritten am fünften Tag erneut weit vor dem Morgengrauen los.
Bei Sonnenaufgang kamen sie in der Oase von Sabya an, die in etwa den halben Weg von Zarifa nach Alessia markierte. Dort warteten bereits zwei alte Bekannte auf sie: Haruns Bruder Sarif und sein treuer Freund Resul. Rayan hatte beide seit Längerem nicht mehr gesehen und staunte nicht schlecht. Vor allem freute es ihn, dass die beiden offenbar auch nach all der Zeit noch immer unzertrennbar schienen.
Sarif grinste, dass es Haruns Idee gewesen war, dass er und Resul hierher kommen sollten. Sie brachten frische Früchte und andere leckere Speisen mit, die die beiden Männer nach mehr als drei Tagen Datteln und Trockenfleisch mit großem Appetit aßen.
Doch die Zeit drängte und schon sahen sie den Helikopter der saudischen Armee herannahen. Es war Haruns Beziehungen zu verdanken, dass sie hier abgeholt wurden. Sarif und Resul würden ihre beiden Pferde mitnehmen und versorgen, bis sich eine Gelegenheit dazu fand, sie zurückzugeben.
Die Bell 205, die die saudische Armee überwiegend benutzte, hatte eine Reichweite von 500 km, und so war es kein Problem, sie von Alessia aus hier abzuholen.
Vermutlich hatte der Transport Harun ein Vermögen gekostet. Er hatte sich aber angesichts der Notsituation strikt geweigert, auch nur über Kosten zu sprechen. Das sei das Mindeste, was er für seinen langjährigen Freund tun könne.
Auf diese Weise landeten Rayan und Harun am fünften Tag seit der E-Mail nach etwas mehr als einer Stunde Flug auf dem Flughafen von Alessia.
Dort trafen sie sich mit Leila, die für sie bereits ein Zimmer im Airporthotel gemietet hatte.
Mai 2002 – Große Wüste – Heimreise mit Hindernissen
Dieses Mal befanden sie sich auf dem Rückweg von einem Besuch bei Rayans neuem Freund Harun Said. Er war im Krieg zunächst gegen sie gewesen, doch konnten sie rechtzeitig das Missverständnis um Haruns Nichte Samira klären, sodass er sich am Ende zu einem wichtigen Verbündeten entwickelte. Rayan und Harun hatten sich sofort gegenseitig respektiert, selbst als sie noch auf entgegengesetzten Seiten der Kriegslinie standen. Und der Scheich der Tarmanen hatte das Leben von Haruns kleinem Bruder Sarif gerettet. Es hatte Harun erstaunt und beeindruckt, dass Rayan das Leben eines Kindes höher schätzte als irgendwelche Abneigungen aufgrund seiner Stammeszugehörigkeit.
Nach Beendigung des Krieges hatten sich Rayan und Harun noch zweimal jeweils nur kurz getroffen, nun war es endlich an der Zeit gewesen, dass Rayan endlich auf die Einladung seines Freundes für einen länger andauernden Besuch zurückkam.
Er hatte die beiden