Die Platte kratze kurz auf, eine Klarinette setzte ein und dann erklang wieder Rosita Serranos Stimme. Die Musik war aber zu laut, sodass der schweigsame Sprenger aufstand, zum Grammophon ging und den Regler herunterdrehte. Unterdessen schob Kehl seine Platte in eine abgewetzte Papphülle. Dann äffte er ein-, zweimal die Stimme von Rosita Serrano nach und zog dabei das Wort »Mohn« aufreizend in die Länge. Schließlich ging Kehl an seinen Platz zurück und las weiter in einem Buch.
Michael hatte die ganze Szene schweigend beobachtet, jetzt wandte er sich wieder den Kartenspielern zu. Hoffmann, Sprenger und Schlenker beendeten ihren Skat. Hoffmann zählte mit bedenklicher Mine seine Stiche zusammen. Schlenker grinste wieder. Er hatte schon im Kopf gerechnet und wusste, dass es nicht reichen würde.
»Scheiße!«, sagte Hoffmann laut. »Das habe ich diesem Onkel Eduard zu verdanken. Verdammte Scheiße!«
Für das nächste Spiel gab Sprenger die Karten. Michael schaute noch bei zwei Runden zu, dann hatte er seinen Kaffee ausgetrunken. Den letzten Schluck schwenkte er im Becher und löste damit den restlichen Zucker auf, der sich am Becherboden abgesetzt hatte. Als Hoffmann wieder über ein verlorenes Spiel meckerte, verabschiedete er sich. Er verließ den Aufenthaltsraum. Michael ging erst duschen und legte sich dann für eine gute Stunde auf seine Pritsche in der Schlafzelle, die er zusammen mit Manfred Keicher bewohnte. Keicher hatte noch Dienst an Bord von U-810 und so blieb Michael ungestört. Er war einmal kurz eingeschlafen. Als er dann erwachte, schaltete er die Nachttischlampe ein. Er nahm sich die beiden Bücher, die er zum Fest geschenkt bekommen hatte, und blätterte darin. Er begann schließlich im ersten Band zu lesen. Nach zehn Seiten legte er das Buch aber auf den Nachttisch zurück, schaltete das Licht wieder aus und döste noch einige Zeit.
Um sechs Uhr sollte das Abendbrot für die Mannschaften geliefert werden. Michael hatte schon vorher Hunger. Kurz nach fünf erschien er wieder im Aufenthaltsraum des Wohnbunkers. Es war leerer geworden. Die Schachspieler saßen noch an ihrem Platz, einige der Lords schrieben Briefe oder lasen eine Zeitung. Das Grammophon war ausgeschaltet. Michael schnitt sich zwei Scheiben Brot ab und bedeckte den Brotlaib wieder mit dem weißen Leinentuch. Er fand einen Rest Butter, schmierte sich die Brote und bestreute das Ganze schließlich noch mit etwas Salz. Er blickte sich im Aufenthaltsraum um. Matrose Kehl saß immer noch in der Ecke, über sein Buch gebeugt. Michael überlegte kurz, dann ging er hinüber zu ihm.
»Stör ich?«
Kehl hob den Kopf und als er Michael vor sich stehen sah, richtete er sich in seinem Stuhl etwas auf. »Nein, nein, Herr Obermaat. Bin grad’ nur so am Lesen, Sie stören nicht.«
Michael zog sich vom Tisch gegenüber einen Stuhl heran und setzte sich. Den Teller stellte er vor sich ab. Dann deutete er auf die Brote. »Das habe ich als Kind geliebt, einfach nur dick Butter und Salz drauf.«
»Sieht lecker aus«, erwiderte Kehl.
Michael schob den Teller ein Stück in Kehls Richtung »Wollen Sie auch was?«
Kehl schüttelte den Kopf. »Nein, nein, danke. Ich kann noch warten, gibt ja in einer Stunde Suppe.«
Michael zog den Teller wieder zu sich, nahm eine Scheibe Brot und biss hinein.
»Guten Appetit!«
Michael nickte kauend. Er schluckt den Bissen herunter und deutete dann auf das Buch, das Kehl noch immer aufgeschlagen in den Händen hielt. »Was lesen Sie da?«
Kehl hob sofort den Buchdeckel an. »Ein Tatsachenbericht von Kapitänleutnant Jost Metzler von U-69, ganz frisch rausgekommen.« Seine Stimme klang euphorisch. »Habe ich mir vor ein paar Wochen gekauft, als ich noch nicht ahnen konnte, dass ich nun auch bald selbst rausfahre, also auf einem U-Boot rausfahre. Haben Sie schon mal von Kaleun Metzler gehört, Herr Obermaat.«
»Metzler, der Name ist doch bekannt«, bestätigte Michael. »und U-69 liegt derzeit im Kéroman II. Die gehen auch bald auf See, und zwar unter Kapitänleutnant Gräf.«
Kehl bekam große Augen. »Was, U-69 aus dem Buch hier liegt in Lorient?«
Michael nickte. »Ja, noch bis zum 2. Januar, glaube ich, wenn nichts dazwischenkommt. U-69 ist ein VII-C-Boot. Sie haben es ganz sicher schon gesehen.«
»Gesehen, ich, wann?«, fragte Kehl überrascht.
»Bei der Rettungsübung waren wir doch im Kéroman II. U-69 lag in einer der Trockenboxen.«
»Das war U-69?« Kehls Augen waren noch größer geworden. »Da muss ich unbedingt noch mal hin. Vielleicht ist ja noch jemand von Metzlers Mannschaft an Bord. Da hole ich mir ein Autogramm für mein Buch.« Kehls Augen strahlten regelrecht.
»Darf ich mal sehen?«, bat Michael. Kehl reichte ihm das Buch und Michael blätterte kurz darin. Dann schaute er Kehl wieder an. »Sie wissen, dass das immer auch ein bisschen Propaganda ist, soll junge Burschen wie Sie für die U-Boot-Waffe begeistern.«
»Ja, mag sein«, druckste Kehl, »aber es basiert doch schließlich auf Tatsachen und kann darum nicht ganz so verkehrt sein, oder?«
»Das nicht, nur wenn wir mit U-810 auf Fahrt gehen, dann werden Sie wohl oder übel Ihre eigenen Erfahrungen machen. Dann dürfen Sie nicht erwarten, dass Sie ein Abenteuer erleben, so wie es vielleicht in Metzlers Buch beschrieben ist.«
Kehl wurde nachdenklich. »Ich wollte eigentlich auch die Schallplatte mit an Bord nehmen.«
»Welche Schallplatte?« Michael wusste erst nicht, was Kehl meinte, doch dann viel es ihm ein. »Ach, Sie meinen diesen Onkel Eduard aus Bentschen, um den es vorhin beinahe Ärger gegeben hätte.«
»Ja, Metzler hatte die Platte auch an Bord.« Kehls Stimme klang nun fast ein wenig traurig. »Der Onkel Eduard, also die Musik, war dann irgendwie eine Art Talisman auf Metzlers Boot. Ich dachte, das könnte bei uns auch ganz lustig sein.«
»Ihr Onkel Eduard hat nicht sehr viele Freunde unter den Lords, fürchte ich.«
Kehl lachte auf. »Keinen Einzigen, nicht einen. Greimel hat sogar behauptet, dass es Judenmusik sei, aber das kann doch nicht sein, sonst hätte Metzler den Onkel Eduard doch niemals auf seinem Boot spielen lassen, oder?«
Michael zuckte mit den Schultern. »Der Onkel Eduard hat jedenfalls keine Chance gegen die Serrano, fürchte ich.«
»Na ja, was soll‘s, ist vielleicht auch besser so. Mein Alter hat mich nämlich beschworen, die Platte wieder heil mit nach Hause zu bringen. Ich werd’ sie gar nicht an Bord nehmen, aber das Buch nehme ich mit.«
*
Die Männer standen in einer geordneten Schlange. Obersteuermann Petersen hatte die Aufsicht. Es ging zügig voran. Drei Matrosen waren für die Ausgabe abgestellt. Einer verteilte das U-Boot-Päckchen und die Seestiefel, einer das Kölnisch-Wasser und der Dritte die Schokolade. Matrose Kehl hatte die Bordkleidung gerade in Empfang genommen. Es war das kleine U-Boot-Päckchen, also gab es auf dieser Fahrt keine Wollsachen. Kehl hielt sein U-Boot-Päckchen vor dem Oberkörper und ließ sich die beiden Fläschchen Kölnisch-Wasser und die drei Dosen Fliegerschokolade noch darauflegen. Als er zur Seite trat rutschten ihm die Sachen beinahe herunter, er konnte es gerade noch verhindern.
Der Tauschhandel hatte schon begonnen. Die Schokolade war natürlich sehr begehrt und wurde nur von wenigen der Männer verkauft oder gegen das Kölnisch-Wasser eingetauscht. Gefreiter Weiss, der Smutje, gehörte zu diesen wenigen. Er hatte aus seinen zwei Fläschchen bereits neun gemacht und er handelte gerade um eine zehnte. Michael trat dazu.
»Hier Theo, Nummer elf und Nummer zwölf, kleines Geschenk von deinen dich liebenden Torpedomixern.«
Michael forderte keine Gegenleistung, noch nicht, denn das würde auf der Fahrt bestimmt noch kommen. Es war eben immer von Vorteil, sich den Schiffskoch gewogen zu halten.
Schlenker kam vorüber und blieb stehen. Er sah die Ausbeute des Smutjes und schüttelte den Kopf. »Wenn die Fressalien einmal nach dem Zeugs da schmecken, dann hau ich dir eine runter, das schwöre ich.«