Kalle nimmt die bissfesten Lederhandschuhe aus seinem Fledermausnotfallkoffer und den alten Wollschal. Die Handschuhe zieht er an, um die aufgeregten Tiere nicht zu verletzen und um selbst nicht verletzte zu werden. Die Fledermäuse wissen ja nicht, dass Kalle sie retten will. Sie fühlen sich von ihrem Retter bedroht und beißen dann schnell. So ein Fledermausbiss kann ganz schön weh tun. Das könnt ihr euch sicherlich denken, wenn ihr das Gebiss der Fledermäuse anschaut. Fledermäuse knacken in einer Nacht bei ihrer Jagd nach Insekten viele hundert Mal den Chitinpanzer ihrer Beutetiere, von Mücken, Schnaken, Fliegen, Faltern, Spinnen und Käfern. Ohne scharfe Zähne ginge das nicht.
Fledermäuse sind Wildtiere. Sie können in sehr seltenen Fällen Tollwut übertragen. Angst hat Kalle nicht. Aber Vorsicht ist nun einmal die Mutter der Porzellankiste. Also „Handschuhe an!“ Er packt die Fledermäuse vorsichtig in seinen Wollschal, nimmt die Abkürzung und ist in zehn Minuten zu Hause. Dort nimmt er die Pipette aus dem Notfallkoffer, taucht sie in Wasser und hält sie an die Maulspalte. Die Fledermäuse trinken einige Wassertropfen aus dem kleinen Saugrohr. Das beruhigt sie. Aber Appetit haben sie nicht. Dazu stehen sie noch zu sehr unter Schock. Falls sie doch etwas fressen möchten, Kalle hat tote Falter und einige Mehlwürmer im Angebot.
Nun holt er den Schuhkarton mit den Luftlöchern aus dem Schrank, polstert ihn mit Papierküchentüchern aus, verschließt ihn fest und ruft die bundesweite NABU-Hotline-Telefonnummer 030284 9845000 an. Die Mitarbeiter der Hotline leiten die Meldung an die regionalen Fledermausschützer weiter. Im Kreis Bitburg-Prüm ist dies Markus Thies, ein erfahrener Schützer. Durch seinen Fledermausvortrag und seine eindrucksvollen Fotos ist Kalle Fledermaus-Fan geworden. Die Kreisbetreuer vom Fledermausschutz kommen in aller Regel, holen verletzte Fledermäuse ab und versuchen, sie wieder gesund zu pflegen. Doch Markus Thies ist still geworden, als Kalle ihm erzählt, wo er Zwergfledermäuse gefunden hat. Er hat keine gute Nachricht für Kalle. Das Barotrauma kann man nicht erkennen. Die Fledermäuse bewegen sich, erscheinen unverletzt. Aber sie sterben nach zwei Tagen an ihren inneren Verletzungen. Markus Thies hat nie gehört, dass Fledermäuse ein Barotrauma überlebt haben. Wenn Katzen Fledermäuse gefangen und mit ihnen gespielt haben, sind die Überlebenschancen dann gut, wenn ein erfahrener Tierarzt ein Antibiotikum gibt und die Verletzungen lediglich oberflächlich sind.
Kalle hat zwar schon junge Fledermäuse gerettet, die er in der Scheune neben ihrem Wohnhaus gefunden hat, doch diesmal ist sein Rettungseinsatz vergeblich. Er kann seine Enttäuschung und Trauer nicht verbergen. Er hat gelesen, dass man die Fledermäuse, die unter einer Windkraftanlage gefunden wurden, dem Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin schicken soll. Es erforscht die Gefährdung von den einzelnen Fledermausarten durch bestimmte Windräder. Aber das ist für Kalle doch zu mühsam und zu kostspielig. Die toten Fledermäuse sollen ein ehrenvolles Begräbnis erhalten. Er fragt seine Mutter, ob er in einer Ecke des Fledermaus-Gartens mit den nachts leuchtend gelb blühenden Nachtviolen einen Fledermausfriedhof einrichten darf. Sie nickt. Dort finden in den nächsten Wochen viele Fledermäuse ihre letzte Ruhestätte.
Die Wochenstube unter dem Kirchendach
Kalle hat wieder einmal, obwohl seine Mutter ihm dies verboten hat, bis spät in die Nacht in seinen Fledermausbüchern gestöbert. Ihn faszinieren die Kobolde. Die Flugakrobaten hatten schon im 15. Jahrhundert einen berühmten Fan. Es war Leonardo da Vinci. Der geniale Künstler war ein Multi-Erfinder. Er entwarf viele Maschinen. Auch ein Flugapparat war darunter. Als Vorbild diente ihm der Körperabau von Fledermäusen. Die Anatomie der Flugkünstler und ihre geniale Flugtechnik animieren auch immer wieder Wissenschaftler zu Nachbauten. Wenn sie der Natur etwas abschauen, nennt man das Bionik. Amerikanische Forscher haben Anfang 2017 eine Fledermaus-Drohne konstruiert. Dieser knapp 90 Gramm schwere Flugroboter „Bat Bot“ kann im Vergleich zu gewöhnlichen Drohnen viel flexibler eingesetzt werden. Er kann enge Kurven fliegen, blitzschnell die Flugrichtung wechseln und in den Sturzflug gehen.
Vieles haben Fledermäuse und Menschen nicht gemeinsam, aber eines doch: Beide säugen ihren Nachwuchs. Er kommt neun Monate nach der Zeugung zur Welt. Aber das heißt nicht, dass auch das Fledermausbaby neun Monate im Mutterleib der Fledermaus heranwächst.
Die Paarung der Fledermäuse erfolgt meistens im Herbst. Viele Männchen begatten die Weibchen aber wie beispielsweise das Braune Langohr oder die Wasserfledermaus überwiegend im frühen Frühjahr oder während einer Wachpause im Winter. Denn wenn der Herbst endet, beginnt der Winterschlaf der Fledermäuse. Im Winterschlaf verlieren die Fledermäuse bis zu einem Drittel ihres Gewichtes. Solche Hungerzeiten sind keine guten Voraussetzungen, um Kinder heranwachen zu lassen. Deshalb konservieren die weiblichen Fledermäuse den Samen des Männchens für mehrere Monate. Erst wenn sie im Frühjahr aus dem Winterschlaf erwachen, können sie wieder zu Kräften kommen. Dann fliegen sie Nacht für Nacht, fangen Mücken, Falter, Spinnen und Tausendfüßler. Sie futtern, was das Zeug hält und sind stark genug, Kinder auf die Welt zu bringen. Die Tragzeit beträgt bei unseren Fledermäusen meistens sechs bis acht Wochen. Manchmal, wenn das Frühjahr nass und kalt, dauert sie aber länger, und zwar bis zu drei Monaten.
Ende Mai oder Anfang Juni werden die jungen Fledermäuse geboren. Bei der Geburt ist eine Fledermaus selten allein. In den Wochenstuben, die in einer Baumhöhle oder unter einem Kirchendach liegen, wimmelt es von schwangeren Fledermausweibchen.
Ab Mai sammeln sie sich in diesen Wochenstuben. Die Wochenstube unter dem Kirchendach und die Geburt der Fledermäuse will Kalle mit eigenen Augen sehen. Morgen, wenn die Dämmerung hereinbricht, will er sich über den Friedhof zur Dorfkirche schleichen.
Wochenstube der Großen Mausohren
Schon am Nachmittag hat er sich vergewissert, dass niemand dort ist, um ihn zu beobachten, denn so eine Fledermausexpedition in den Kirchturm wäre dem Pfarrer sicherlich nicht recht. Er schnallt sich die Stirnlampe um den Kopf, steckt seine Ersatztaschenlampe in den kleinen Kletterrucksack, nimmt eine kleine Flasche Wasser mit, zieht Handschuhe an und schleicht an den Gräbern vorbei zur Kirchtür. Ganz wohl ist ihm dabei nicht, vor allem, wenn das Käuzchen auf der Laterne am anderen Ende des Friedhofs ruft und er den Luftzug von Fledermäusen spürt, die dicht über seinen Kopf hinwegfliegen. Es sind Große Mausohr-Fledermäuse. Es sieht so aus, als wollten sie ihn vertreiben und daran hindern, den Kreißzahl unterm Dach zu besuchen. Aber es sind nur die Mausohrmütter, die bereits ein Baby zur Welt gebracht haben. Sie sind unermüdlich auf Futterjagd, um genügend Milch für ihr Baby zu haben. Sowie sich die Mütter wieder an die Dachbalken hängen, beginnen die Kleinen an ihren Zitzen zu saugen.
Kalle hat Glück. Der Küster hat die Kirchentür nicht verschlossen. Es ist auch kein betendes Mütterlein in der Kirche. Er knipst seine Stirnlampe an, läuft rechts hinter
Großes Mausohr
den Altar. Dort steigt er die enge hölzerne Treppe hoch, Stufe um Stufe. Er muss sich verzählt haben, oder sind es wirklich 128 Stufen? Der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Hätte er sich doch ein wenig mehr Zeit gelassen. Er öffnet seinen kleinen
Rucksack, trinkt einen großen Schluck aus der Flasche und nimmt die Taschenlampe heraus. Er leuchtet in das Gebälk. Dort hängen 60 oder 70 werdende Mausohr-Mütter. Genau kann er sie nicht zählen. Fledermausmütter drehen sich zur Geburt ihres Jungstieres richtig herum. Sie halten sich mit ihrem Daumenkrallen am Dachbalken fest und nutzen ihre Schanzflughaut und ihre Flügel wie eine Hängematte oder einen Kescher. In diesen fällt das Jungtier nach der Geburt und muss sich sofort mit seinen großen Füßen am Bauchfell der Mutter festhalten. Meistens ist es nur ein Junges. Es saugt