Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine von der Wellen
Издательство: Bookwire
Серия: Das Vermächtnis aus der Vergangenheit
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738019803
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Halbjahr gar kein Schwimmen mehr“, brummt Julian grimmig und mir ist klar, dass Mama das Thema, das Julian und mich wirklich interessiert, nicht mehr vertiefen will. Und da kenne mal einer die Sturheit meiner Mutter.

      Ohne dem Fernseher Aufmerksamkeit zu schenken, falle ich an diesem Abend ins Bett.

      Von vielem nun wissend, dass es irgendwie der Wahrheit entspricht und doch von allem nichts Genaues, liege ich da und überdenke alles noch einmal. Etwas brennt sich mir als sehr ungeheuerlich ins Gedächtnis. Da kam dieser Kurt extra aus Ägypten, wo er erfolgreich und wahrscheinlich auch glücklich gewesen war, in sein sogenanntes Heimatland zurück, um es zu verteidigen und wird von den Menschen als Hexer verbrannt. Das ist schon echt heftig.

      Ich werfe mich hin und her und ahne irgendwie, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Mir drängen sich die Fragen auf, wann dieser Kurt nach Deutschland zurückkehrte und wann er starb … oder verschwand. Das muss doch herauszufinden sein.

      In mir scheint ein Wurm mit jeder Sekunde des Nachdenkens darüber dicker und behäbiger durch mein Inneres zu kriechen und ein schreckliches Unbehagen auszulösen. Warum regen mich nur die Gedanken an so längst vergangene Zeiten so auf? Warum interessiert mich das Ganze überhaupt so? Eine Frage, die ich mir in den letzten Tagen schon oft gestellt habe und die irgendetwas in mir auf Anhieb beantworten könnte, wenn ich es zulassen würde. Aber da gibt es eine Mauer, die sich scheinbar durch meinen Körper zieht, wie die Mauer, die damals Berlin in Ost und West getrennt hatte. Bloß das sie bei mir mich und irgendetwas anderes zu trennen scheint, das in mir wohnt.

      Wieder werfe ich mich auf die andere Seite und streiche mir das wirre Haar aus dem Gesicht. In meinem Zimmer ist es stockfinster und ich höre das seichte Rauschen des Wäldchens mit der Sandgrube, das sich auf der anderen Straßenseite gegenüber unserem Haus erhebt.

      Ich kann einfach nicht in den Schlaf finden, obwohl ich mich todmüde fühle.

      Wieder ranken sich meine Gedanken um diesen Kurt und plötzlich sehe ich ihn. Er ist erst nur schemenhaft in der Dunkelheit zu erkennen, dann kommt er näher und das helle Licht eines Blitzes erhellt sein Gesicht. Schmutzig und mit entsetztem Ausdruck in den Augen läuft er auf mich zu. Seine Haare liegen unter einem Helm versteckt und er trägt einen grauen Anzug, der so verdreckt ist, dass er von allein stehen könnte. Hinter ihm sehe ich noch mehr Gestalten, die aber einfach umfallen. Einer schreit einen Namen: „Kurt … KURT! Hilf mir!“

      Ich sehe zur Seite und dort kniet jemand auf der Erde. Ich spüre plötzlich eine Angst um diesen Menschen durch meine Eingeweide kriechen und renne zu ihm.

      In dem Augenblick fällt er vornüber in den Schlamm.

      Ich schreie mit einer tiefen Männerstimme: „Nein! Martin! Steh auf, du darfst hier nicht liegen bleiben.“ Mich neben ihn in den Schlamm werfend, greife ich nach seinen Schultern und drehe ihn um.

      Überall ist Blut …

      In meinem Kopf schreit etwas, dass ich nach Kurt suchen muss. Dieser Mann wollte Kurt sehen.

      Ich werfe den Kopf herum und suche in den an mir vorbei springenden Körpern nach dem Gesicht, das ich eben noch vor mir gesehen hatte.

      Plötzlich zerrt jemand an mir. „Komm, Kurt! Du kannst Martin nicht mehr helfen.“ Jemand reißt mich auf die Füße und ich laufe mit ihm mit, eine schreckliche Angst und Traurigkeit fühlend.

      Ein dazu unpassendes, erschrockenes Gefühl ergreift mich plötzlich, dass ich scheinbar selbst Kurt bin. Das passt doch alles gar nicht zusammen!

      Dennoch renne ich weiter. Mit meinen kalten, klammen Händen umklammere ich ein Gewehr, obwohl ich es lieber entsetzt wegwerfen möchte.

      Vor uns sehe ich eine Anhöhe und wir klettern, wie viele andere Körper auch, hinauf und lassen uns in den schlammigen Abgrund fallen.

      „Geschafft!“, raunt neben mir die Gestalt, die mich von Martin weggezerrt hatte. Über uns knallt und donnert es. Der Himmel scheint zu glühen.

      Ich zittere am ganzen Körper und spüre ein Zerren an meinen Armen und höre eine Stimme, die mir so seltsam vertraut ist und so gar nicht in dieses Bild der Zerstörung passt. „Carolin! Wach auf! Das ist nur ein Traum! CAROLIN!“

      Ich schlage die Augen auf und starre in dem Licht meiner Nachttischlampe Julian an, der neben meinem Bett kniet. Er sieht mich aufgebracht an. „Nah endlich. Ich dachte schon, ich bekomme dich nie wach.“

      Verwirrt setze ich mich auf. Das war alles nur ein Traum!?

      Ich liege in meinem Bett und nicht in einem Schützengraben mitten unter Beschuss eines sinnlosen Krieges.

      Julian horcht auf und murmelt dann beruhigt: „Wir haben echt Glück. Mama und Papa haben nichts davon mitbekommen. Sonst hätten wir jetzt ein echt großes Problem.“

      Ich verstehe ihn nicht. Jeder träumt doch mal irgendeinen Blödsinn. Ich halt immer wieder den gleichen.

      Kälte kriecht an mir hoch wie eine dicke Python, und ich merke, dass ich klitschnass geschwitzt und fiebrig heiß bin.

      „Ich hatte einen echt ätzenden Traum“, entschuldige ich mich.

      „War es wieder der Krieg oder diesmal die Verbrennung?“, fragt Julian und sieht mich seltsam an.

      Vollkommen perplex starre ich zurück. „Woher weißt du …?“ Weiter komme ich nicht. Das Entsetzen schnürt mir immer noch die Kehle zu. Dennoch frage ich Julian, mehr zur Bestätigung meiner Befürchtungen: „Du weißt von meinen Träumen?“

      Er nickt und sieht mich aufgebracht an. „Du hattest sie früher schon. Ach, ich weiß gar nicht, seit wann schon. Du konntest kaum Laufen, hast aber schon geträumt, als wäre alles Böse dieses Lebens hinter dir her. Du konntest gerade Mama und Papa sagen, da riefst du im Traum nachts nach Martin und schriest: Bomben … Bomben.“

      Das kann nur ein Scherz sein und Julian verarscht mich. „Du spinnst! Das habe ich nicht!“

      Doch seine Miene bleibt erschreckend ernst und er sieht mich so seltsam an, dass ich plötzlich Angst bekomme. „Warum weiß ich davon nichts mehr?“, raune ich.

      „Du warst in Behandlung. Viele Jahre lang. Ich durfte mit dir kein Fernsehen gucken und keine Spiele spielen, die nicht absolut kleinkindgerecht waren. Wir schotteten dich von Nachrichten ab und von allem, was dich irgendwie erschrecken oder aufregen konnte. Die Ärzte meinten, dass du irgend so ein Syndrom hast, das dich alles, was du siehst oder hörst, nachts verstärkt erleben lässt. Aber dann kam Opa und sagte, dass dieser Martin ein Freund von Kurt, seinem Opa, gewesen war und im Krieg 1942 fiel.“ Julian sieht auf seine Hände, als habe er etwas verraten, was ihn selbst zutiefst irritiert.

      „Was? Davon kann ich doch gar nichts wissen!“

      „Genau“, antwortet er knapp und steht auf. „Und was träumtest du eben? War wieder Krieg? Du bist so heftig zusammengezuckt und hast um dich geschlagen.“

      Ich spüre, dass vollends alle Farbe aus meinem Gesicht weicht. „Von Krieg und Bomben … und ich hörte mich jemanden rufen und sah einen jungen Mann, wie er starb.“

      Julian nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. Seine Hand legt sich auf meine Schulter und er sieht mich eindringlich an. „Sag bloß Mama nichts davon. Die flippt aus! Mit dem, was sie dir heute schon alles erzählt hat, glaubt sie bestimmt, du wärst endgültig von diesem Trip geheilt. Da würde sie dieser Traum total schocken.“

      Ich nicke und weiß doch nicht, ob ich mit der Angst vor einem weiteren solchen Traum überhaupt wieder schlafen kann. Denn dieser übertraf alles Bisherige.

      „Was habe ich damals noch geträumt?“, frage ich Julian vorsichtig und sehe ihm sofort an, dass ich darauf keine Antwort erhalten werde.

      „Frag nicht. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass du daran erinnert wirst. Vielleicht vergeht das Ganze dann von allein. Denn glaube mir, wenn dich wieder so ein Arzt umkrempelt, wie sie es damals getan haben, dann hast du nichts mehr zu lachen.“ Er scheint ernsthaft um mich besorgt zu sein. „Es reicht,