Zur Genealogie der Moral. Friedrich Wilhelm Nietzsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Wilhelm Nietzsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783750290181
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Im einzelnen vergleiche man, was ich »Menschliches, Allzumenschliches« (I 483 f.) über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven); insgleichen (ebd. 535 ff.) über Wert und Herkunft der asketischen Moral; insgleichen (ebd. 504 ff. u. 770) über die »Sittlichkeit der Sitte«, jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral, welche toto coelo von der altruistischen Wertungsweise abliegt (in der Dr. Rée, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Wertungsweise an sich sieht); insgleichen (ebd. 501 f.), »Wanderer« (ebd. 885 f.), »Morgenröte« (ebd. 1084 f.) über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich alles Rechts); insgleichen über die Herkunft der Strafe »Wanderer« (ebd. 881 f. u. 890 f.), für die der terroristische Zweck weder essentiell noch ursprünglich ist (wie Dr. Rée meint – er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes).

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      Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eigenes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer: letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den Wert der Moral – und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet (– denn auch jenes Buch war eine »Streitschrift«). Es handelte sich insonderheit um den Wert des »Unegoistischen«, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die »Werte an sich« übrigblieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, nein sagte. Aber gerade gegen diese Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah ich die große Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch? ins Nichts? –, gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordenen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum – Nihilismus?... Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über den Unwert des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, Larochefoucauld und Kant, vier Geister so verschieden voneinander als möglich, aber in einem eins: in der Geringschätzung des Mitleidens. –

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      Dies Problem vom Werte des Mitleids und der Mitleids-Moral (– ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer aber einmal hier hängenbleibt, hier fragen lernt, dem wird es gehn, wie es mir ergangen ist – eine ungeheure neue Aussicht tut sich ihm auf, eine Möglichkeit faßt ihn wie ein Schwindel, jede Art Mißtrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt – endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntnis weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den Wert dieser »Werte« als gegeben, als tatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger?... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?...

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      Genug, daß ich selbst, seitdem mir dieser Ausblick sich öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehn (ich tue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral – der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heißt dies nicht beinahe soviel als dieses Land erst entdecken?... Wenn ich dabei, unter anderen, auch an den genannten Dr. Rée dachte, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, daß er von der Natur seiner Fragen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich mich darin betrogen?

      Mein Wunsch war es jedenfalls, einem so scharfen und unbeteiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen Historie der Moral zu geben und ihn vor solchem englischen Hypothesenwesen ins Blaue noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen Moral-Genealogen hundertmal wichtiger sein muß als gerade das Blaue: nämlich das Graue, will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit!

      – Diese war dem Dr. Rée unbekannt; aber er hatte Darwin gelesen – und so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zum mindesten unterhaltend ist, die Darwinsche Bestie und der allermodernste bescheidne Moral-Zärtling, der »nicht mehr beißt«, artig die Hand, letzterer mit dem Ausdruck einer gewissen gutmütigen und feinen Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von Ermüdung eingemischt ist: als ob es sich eigentlich gar nicht lohne, alle diese Dinge – die Probleme der Moral – so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr lohnten, daß man sie ernst nimmt; zu welchem Lohne es zum Beispiel gehört, daß man eines Tags vielleicht die Erlaubnis erhält, sie heiter zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, die fröhliche Wissenschaft – ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen sagen: »vorwärts! auch unsre alte Moral gehört in die Komödie!« haben wir für das dionysische Drama vom »Schicksal der Seele« eine neue Verwicklung und Möglichkeit entdeckt –: und er wird sie sich schon zunutze machen, darauf darf man wetten, er, der große alte ewige Komödiendichter unsres Daseins!...

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      – Wenn diese Schrift irgend jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht notwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, daß man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der Tat nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen »Zarathustra« anbetrifft, so lasse ich niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts genießen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Anteil zu haben. In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, daß man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht »entziffert«; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf.

      Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was