‚Ich hasse diese Arbeit!', denke ich. Trotzdem bin ich erleichtert, dass es sich bei diesen Unterlagen nicht um etwas Schlimmeres handelt. Eine Hochzeit zu genehmigen, ist wenigstens angenehm. Da musste ich schon ganz andere Unterlagen ansehen und unterzeichnen. Sehr unangenehm sind immer die Renteneintrittsdokumente. Im Prinzip ist das ja in vielen Fällen nichts anderes als ein Todesurteil. Und das muss ich dann für meine eigenen Leute unterschreiben. Das ist wirklich schlimm. Klar, manche geben auch einfach ihr Geld her, aber selbst das bringt höchstens ein Jahr mehr Lebenszeit. In den Heimen werden sie zu Tode gehungert. Zwar nicht so, dass es auffällt, aber es ist ein offenes Geheimnis.
Wortlos nehme ich einen kombinierten Stift, stemple das Dokument und unterzeichne.
"Du zeichnest das einfach ab? Bist Du krank, Jörg?"
"Sie ist eine loyale Mitarbeiterin", sage ich entspannt. "Es spricht nichts dagegen."
‚Wenn dieses Dokument hier ist, muss es der Minister genehmigt haben', denke ich. Ich hoffe jedenfalls, dass es keine Fälschung ist.
Mein Gegenüber verabschiedet sich und verlässt den Raum.
* * *
Ich sitze in einem Zug. Es ist heiß. Die Klima-Anlage, falls vorhanden, funktioniert nicht.
Es ist ein Schienenbus, eigentlich sind zwei Schienenbusse aneinandergekoppelt. Ich höre das Dröhnen des Dieselmotors.
Der Lautsprecher wird aktiviert. Irgendeine Durchsage, die zu leise ist, um sie zu verstehen.
‚Was sollte da ein Blinder machen, der auf die Durchsagen angewiesen ist?', denke ich.
Ich vertiefe mich wieder in mein Lehrbuch Anatomie.
Am Hauptbahnhof steige ich aus. Wir haben auf einem Gleis gehalten, das außerhalb der Haupthalle liegt.
Sonne brennt auf den Asphalt.
Ich schleppe mein Gepäck Richtung Haupthalle. Dort ist es wenigstens ein wenig kühler. Überall hastende Menschen.
Irgendein Zug hat Verspätung. Es wird um Verständnis gebeten, das bestimmt niemand aufbringt, der es eilig hat.
Plötzlich werde ich gepackt. Einer entreißt mir meinen Rucksack. Die anderen beiden packen mich an Schultern und Beinen.
Die Treppen hinab zur U-Bahn. Auf die Schienen, durch die Tür. Mir graut.
"Da sind Sie ja wieder", höre ich die Stimme des Arztes. Ich zittere.
"In den Untersuchungsraum. Anschließen. Wir beginnen gleich."
Wieder werde ich auf eine Liege geschnallt.
Dann schüttelt mich irgendjemand. Warum? Und wer ist das?
"Herr Hagen?"
Ich kann mich nicht bewegen.
"Herr Hagen." Wieder werde ich geschüttelt.
Der Untersuchungsraum löst sich auf.
Ich blicke in das Gesicht von zwei Krankenschwestern. Ich bin schweißgebadet.
"Sind Sie wach?", fragt eine der Schwestern besorgt.
Es ist hell vor dem Fenster.
"Muss wohl eingeschlafen sein", murmele ich.
"Sie haben geschrien. Wir waren drei Türen weiter beschäftigt."
"Tut mir leid."
"Geht es Ihnen wieder gut? Können wir etwas für Sie tun?"
Ich schüttele langsam den Kopf.
Eine der beiden legt mir eine Hand auf die Schulter. Mit der anderen deutet sie auf den Klingelknopf.
"Rufen Sie uns, wenn Sie was brauchen."
Immer noch leicht besorgt verlassen sie mein Zimmer.
* * *
Meine Entlassung geht reibungslos vonstatten.
Mit einem Taxi fahre ich zum Amt für letzte medizinische Untersuchungen, wo ich meinen Wagen abgestellt habe.
‚Habe ich dort einen Computer repariert?', frage ich mich. Ganz ist die Erinnerung noch nicht zurück.
Ich lehne mich in die Polster zurück.
Das Taxi kommt im Samstagsverkehr nur langsam voran. Mein Auge juckt. Dieser Arzt, wie hieß er noch, Haller, Halder? Der Name Halder erinnert mich an etwas, aber ich kann es nicht greifen. Wie ein Echo höre ich ihn in meinem Kopf. Dann ist der Gedanke wieder weg. ‚Naja, ist auch egal, wie der Arzt heißt.', denke ich.
Ich steige aus dem Taxi.
Das Gebäude gefällt mir nicht. Aber glücklicherweise habe ich hier wenig zu tun.
"Guten Morgen, Herr Schader", begrüßt mich ein freundlicher Mann in einem schwarzen Anzug. Ich kenne ihn sehr gut. Minister Gröll.
"Guten Morgen, Herr Minister."
Ich taste in der Tasche nach den Wagenschlüsseln. Sie sind weg.
"Suchen Sie Ihren Autoschlüssel? Ich habe ihn für Sie aufbewahrt. Er ist Ihnen wohl gestern runtergefallen und Sie haben es nicht bemerkt, wie?"
Er gibt mir meine Schlüssel.
"Danke, Herr Minister. Gibt es heute für mich noch etwas zu tun?"
"Heute nicht, aber Sie kommen doch morgen zu mir nach Hause, wie abgemacht?"
‚Ach ja, er will mich ja einigen Leuten vorstellen', denke ich.
"Natürlich, Herr Minister."
"Das freut mich sehr. Es wird auch nicht zu Ihrem Schaden sein."
Wieder juckt mein Auge.
"Ich fahre dann nach Hause", sage ich.
Der Minister verabschiedet sich.
"Ja, bevor Ihre Frau ungeduldig wird. Und Ihre Kleine, nicht? Wie heißt sie doch gleich?"
"Bettina", sage ich und trete auf meinen Wagen zu, einen sehr alten Mercedes.
"Grüßen Sie Ihre Frau von mir!", ruft mir der Minister noch zu.
"Werde ich tun", sage ich.
Ich schließe die Wagentür auf. Das Handschuhfach steht offen. Ich schließe es schnell, ziehe die Tür zu. Eine Minute sitze ich einfach nur da und streiche gedankenverloren über das Armaturenbrett und das Lenkrad.
Dann starte ich den Motor. Verärgert stelle ich fest, dass ich vergessen habe, zu tanken.
‚Hoffe, ich schaff das noch!', denke ich und fahre los.
* * *
Ich liege in einem Krankenhausbett. Neben mir sitzt ein Mann, an den ich mich zuerst nicht erinnern kann.
"Ich lasse Sie mit Ihrem Besuch allein, Herr Hagen." Die Schwester verlässt das Ein-Bett-Zimmer.
"Wie geht's Ihnen, Pilot?"
Die Erinnerung kehrt zurück. Dieser Mann war der Schiffsführer der Space-Explorer. Wir sind abgestürzt.
"Ich weiß nicht recht", sage ich verwirrt.
Er drückt aufmunternd meine Schulter.
"Wir beide haben Glück gehabt. Ich bin komplett unverletzt, bis auf einen gebrochenen Arm und eine Verletzung im Nacken. Aber das haben sie hier schnell wieder hingekriegt. Sie haben gute Arbeit geleistet."
"Aber das Schiff ist beschädigt", sage ich. "Man wird mich zur Verantwortung ziehen."
"Wird man nicht. WENN dann wird man mich zur Verantwortung ziehen. Aber auch das wird nicht geschehen. Wir sehen uns wieder, Herr Hagen. Erholen Sie sich gut."
Mit diesen Worten verlässt der Schiffsführer den Raum.