Die Tür fällt zu. Und ich sehe mich um. Sieben Schritt lang, dreieinhalb Schritt breit. Gleich links neben der Tür an der Schmalwand ein brauner Kachelofen. Im Winkel an ihm ein Spucknapf. Ach was, Grundriß:
Die Tür, die innen mit Eisen beschlagen ist, hat natürlich ein Guckloch, das außen mit einer Doppelklappe – für kurzen und für vollständigen Überblick – verschlossen ist. Das Fenster, ungefähr anderthalb Meter über der Erde, ist aus geripptem Milchglas, seine obere Hälfte ist schräg zum Aufklappen eingerichtet, hat an den Seiten aber Blechblenden, die das Hinaussehen verhindern sollen. Ich steige jedoch einen Augenblick auf den Abortrand, und nun sehe ich ein paar grüne Baumwipfel des Parks. Die Zelle ist einfach geweißt, der Fußboden Linoleum, die Decke leicht gewölbt. Das Schränkchen – mit vier Abteilungen – hat unter sich ein paar Haken zum Sachenanhängen. Zwei Wischtücher, ein Scheuertuch und einen Handfeger finde ich vor. Das Bett hat eine dreiteilige, gar nicht sehr harte Seegrasmatratze und einen ebensolchen Kopfkeil. Die Wände der Zelle, die Ofenglasur, die Holzteile, selbst der Eisenlackanstrich der Tür sind über und über mit allen möglichen Inschriften, Einschnitten, Zerkratzungen bedeckt. Außerdem sind an der Wand seltsame lange schwärzliche und bräunliche Flecke, die bis zur Decke reichen, ich verstehe ihre Bedeutung erst später.
Ich beziehe das Bett, gehe einen Augenblick auf und ab, und da jetzt die Aufregung und die Wirkung des Alkohols nachlassen, fühle ich mich schläfrig und lege mich aufs Bett.
Als ich erwache, glaube ich zuerst noch, ich bin im Traum. Direkt vor meinem Auge, so daß sie ungeheuer groß erscheinen, bewegen sich zwei rostbraune, breite, gepanzerte Tiere. Ich fahre mit dem Kopf zurück, ich fühle ein unerträgliches Jucken im Gesicht und an den Armen, und ich begreife: Wanzen. Ich habe diese Tiere bisher nur in den Fenstern der Drogenhandlungen auf den Plakaten der Insektenvertilgungspulver gesehen, aber es sind zweifelsohne Wanzen. Ich zerdrücke sie, sie hinterlassen auf dem Überzug zwei breite Blutflecken. Und nun begreife ich auch die schwärzlich-braunen Stellen an den Wänden. Dieses sind keine versprengten Einzelexistenzen, dieses sind die Sendboten eines großen Volkes, mit dem ich mich werde auseinanderzusetzen haben.
Mein erstes Gefühl ist das der Empörung. Man kann im Gefängnis streng sein, man kann dies verbieten und jenes, aber Wanzen liegen außerhalb jedes Bestrafungsplanes. Wanzen braucht sich auch ein Gefangener nicht zumuten zu lassen.
Es kann noch nicht spät sein. Ich habe wohl keine halbe Stunde geschlafen. Von unten höre ich eine Stimme kommandieren, dann höre ich ein rascheres Geräusch wie Schlagen auf Holz und eine Weile darauf eine wilde Jagd die Treppe hinauf. Dann wird meine Tür geschlossen, jemand reicht mir eine Schale und ein Stück Brot hinein. Die Tür geht wieder zu.
Ich betrachte mein Abendessen. Es ist eine hübsche Portion Haferschleim und ein Riesenstück trockenes Brot, ein halbes Pfund Brot in einem Stück. Ich betrachte es mit Ehrfurcht und setze es wieder in meinen Schrank. Dann esse ich ein paar Löffel Haferschleim und versuche ein wenig von Frau Wulfens Butterbroten. Es schmeckt nicht. Und wieder gehe ich auf und ab. (Ich habe so ein wenig das Gefühl, daß Gefangene auf und ab gehen müssen, immerzu.)
Dann öffnet sich meine Tür noch einmal, und der Oberwachtmeister schaut hinein. »Geben Sie dem Mann dort Ihren Napf. Bis morgen früh kommt nun niemand mehr. Und nach dem Frühstück treten Sie dann auch mit zur Arbeit an.«
Ich bin allein. Ich gehe auf und ab. Ich denke ein wenig an das Mädel von vorhin, an die vorhergehende Nacht, die Fahrt zum Dampfer – ferne Welt.
Und plötzlich überkommt mich ein rasender Hunger nach Rauchen. Es ist wie Irrsinn. Wilder Irrsinn. Ich habe Tabak, ich habe Zigarettenpapier, nur die Streichhölzer, die Streichhölzer! Aber kann man denn gar nichts machen? Ich erinnere mich, das Zuchthauskommando, das wir in Radach hatten, sie hatten einen Knopf auf einem langen Faden, den sie in Rotierung versetzten, gegen den Rand einer Blechschachtel schlagen ließen, die Funken fielen auf Zunder … Blechschachtel und Knopf sind da, nun nur ein langer Faden. Ich mache mich daran, aus meinen sehr gestopften Strümpfen einen Wollfaden auszuziehen, als ich ihn habe, ist er zu kurz. Den Rand aufrebbeln? Es ist mir alles egal. Aber ich bekomme nichts los. Außerdem, fällt mir ein, würde ein Wollfaden zu schwach sein, er würde reißen. Ich suche weiter, und plötzlich fällt mir die Kehrichtschaufel ein, auf der von meinem Vorgänger alles mögliche Zeug lag. Richtig, da liegen viele Fäden, aber so wollig, so kurz.
Und nun bekomme ich ein Stück Holz in die Hand, es ist so seltsam schwer, und als ich es näher anschaue, bemerke ich, daß mit Leinenstreifen auf seine eine Seite eine Dreikantfeile aufgebunden ist. Zuerst denke ich an Durchfeilen des Fenstergitters, Ausbruch, den mein Vorgänger betrieb, aber als ich dann ein weiteres Stück Holz in die Hand bekam, in dessen aufgespaltene Spitze ein Stück Feuerstein eingeklemmt war, begriff ich: das gesuchte Feuerzeug, Gnade über Gnade, hier war es, fertig zum Gebrauch.
Gesegnet seiest du, Vorgänger! Wo immer du auch nun wandelst, nie soll es dir an Rauchmaterial fehlen und an Feuer dazu, das wünsche ich dir.
Und ich drehe eine Zigarette. Lege den Zunder bereit. Und fange an, Feuer zu schlagen. Ich schlage eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Es wird dämmerig, ich pinke noch. Es ist dunkel, ich pinke immerzu.
Ihr Lieben, auch Feuerschlagen will gelernt sein, ich habe in zwei Stunden einen Funken erzielt!
Aber darüber ist mein Rauchhunger vergangen. Ich schiebe ein wenig Tabak in den Mund, zuerst schmeckt er ein wenig stark, aber nach einer Weile ist er köstlich und lind.
Und nun werde ich einen tiefen Schlaf tun, daß ich morgen zur Arbeit frisch bin.
(Ich muß noch nachtragen, daß ich bei der Essenausgabe dem Oberwachtmeister meldete: »Hier sind Wanzen im Zimmer.«
Meine Stimme klang wohl sehr entrüstet.
»Wanzen«, fragte er zurück, »darüber hat aber der Schullehrer nie geklagt. – Melden Sie es morgen früh, dann werden Sie ein Mittel bekommen.«
Morgen früh!, und ich hatte die gleiche Empörung, Umsturz, sofortige Maßnahmen erwartet. Dieser Fall schien nichts ganz Außergewöhnliches zu sein.)
Sonnabend, 21. Juni 1924
Was mir von diesem, nun zwei Wochen zurückliegenden ersten Arbeitstage im Gedächtnis geblieben ist, ist dieses:
Eine aus den Maßen schaudervolle Nacht. Kurzes heftiges Einschlafen und Erwachen von einem Jucken, das ich nun schon kenne. Ich fahre auf. Mein Bett scheint zu leben. Und da ich die Juckstellen am Körper kratze, scheinen es unzählige zu sein. Legionen müssen meine Lagerstatt erfallen. Ich suche den Mord, finde aber nur wenig Opfer.
Und dann wieder ein sachtes Hindämmern, das, ehe nur der Schlaf kommt, wieder mit einem Emporschrecken und Kratzen endet und so fort und – so – fort. Dabei höre ich die Stunden vom Turm schlagen, endlos, mit endlosen Pausen zwischen den Viertelstunden. Ein Nachtvogel knarrt vor meinem Fenster, schnarrend, mißtönig. Dazu lärmen Hunde! Hält man hier Hunde? Ja, einer muß draußen auf dem Hof vor meinem Fenster lärmen, ein anderer drunten im Haus. Ich denke an den ersten Abschnitt von »Anton und Gerda«.
Gegen Morgen falle ich in einen tiefen Totenschlaf, in den doch noch die Erinnerung an die ausgestandene Quälerei hineinwebt. Dann höre ich eine Stimme »Aufstehen« rufen und noch einmal »Aufstehen«. Ich fahre auf.
Das frische Wasser tut mir wohl. Während des Anziehens überlege ich mir den Morgenplan. Da ich nicht weiß, wieviel Zeit mir bis zum Arbeitsanfang zur Verfügung steht, muß ich mich mit dem Reinigen der Zelle beeilen.
Zuerst mache ich das Bett. Ich habe die glatte Fläche, in der die Oberdecke in der Kalfaktorenstube lag, noch gut in der Erinnerung und finde, daß sich eine solche Glätte mit zwei in einen Überzug eingeschlagenen Flanelldecken nicht leicht erzielen läßt.
Dann fege ich mit dem Handkehrer die Zelle aus. Staubfreiheit des Bodens