Um den großen, hölzernen Tisch versammelt saßen mehrere Engel und ein riesiger Mann, den Lucifer sofort identifizieren konnte, ohne ihm vorher jemals begegnet zu sein. Der Fremde saß am Tischende, die Arme vor der breiten Brust verschränkt, ein provokantes Lächeln auf den Lippen. Seine Haut wirkte gräulich und blutleer, über seinen Schädel zog sich mehr ein dunkler Flaum als wirkliches Haar. Zu einem prächtigen Lederharnisch, der eigentlich nicht für Konferenzen als vielmehr für ein Schlachtfeld gedacht war, trug er eine dunkle Hose und schwere Stiefel, die Lucifer deshalb so gut sehen konnte, weil die Füße des Mannes auf der Tischplatte lagen. Seine Augen blitzten beim Anblick des Engels aus der Zeit des Anbeginns kurz rot auf.
„Seid uns willkommen, Satan, Herr der Hölle“, begrüßte Lucifer ihn förmlich, aber mit einem verächtlichen Blick in Richtung des Dämons, der ihn seinerseits nicht aus den Augen ließ. „Ihr seid mit derlei Gerätschaften vermutlich nicht vertraut, aber überlicherweise werden Tische nicht dazu genutzt, seine Füße darauf auszuruhen. Sie dienen vielmehr als Ablage für Gegenstände, statt für Körperteile.“
Ein amüsiertes Raunen lief durch den Raum, als Satan mit einem ärgerlichen Schnauben klein beigab und seine Füße vom Tisch entfernte. Rechts von ihm saß ein streng dreinblickender Engel mit kurzem, aschblonden Haar, der in seinem Waffenrock Lucifers Wissen nach mindestens drei versteckte Messer aufbewahrte. Es handelte sich bei diesem Engel um seinen Bruder Hasmed, den Engel der Zerstörung und Anführer der himmlischen Heerscharen. Vermutlich war er zur Sicherheit des Herrn anwesend.
„Ihr haltet Euch wohl für sehr schlau, kleiner Engel“, grollte Satan. Seine Stimme war so tief, dass sie einem Donnern glich und seine Augen glühten Rot.
Wenn Lucifer eines hasste, dann waren es Anspielungen auf seine Größe. Er gab sich viel Mühe, die anderen Engel nicht merken zu lassen, dass er ihnen an Körpergröße unterlegen war, indem er umso autoritärer mit ihnen umging. Da der Herr größtenteils mit der Welt der Menschen beschäftigt war, kümmerte sich Lucifer stellvertretend um dessen Geschäfte im Himmel und genoss daher großes Ansehen unter den Engeln.
Mühsam schluckte er den höhnischen Kommentar herunter, der ihm daraufhin auf der Zunge lag, um den allgemeinen Frieden zu bewahren. Stattdessen ließ er sich auf seinen Stammplatz am Kopfende direkt neben dem Sitz des Herrn nieder und blickte in die versammelte Runde. Die meisten Engel kannte er nur vom Sehen, doch es fiel ihm schwer, sich alle Namen einzuprägen.
„Wo bleibt der Herr?“, fragte Hasmed mit seiner tiefen, stets abweisend klingenden Stimme.
„Keine Ahnung, hab Ihn heute noch nicht getroffen“, entgegnete Lucifer äußerlich gelassen, doch innerlich beunruhigt. Gott konnte unmöglich einen so wichtigen Termin verpassen, bei dem es um den Frieden zwischen Himmel und Hölle ging...!
„Traut Er sich etwa nicht?“, höhnte Satan und lachte donnernd. Unruhig schlug Lucifer mit den Flügeln. Die Stühle im Himmel waren extra dafür konstruiert, dass man auch geflügelt darauf sitzen konnte, aber dafür musste man extra dünne Lehnen in Kauf nehmen, die auf die Dauer eine Belastung des Rückens darstellten. Im Augenblick wäre Lucifer gerne im Erdboden versunken, so sehr schämte er sich für den Herrn.
„Sicherlich hat Er nur zu tun“, versuchte er, seinen Bruder zu beruhigen. „Ich werde nach ihm sehen.“
Mit schnellen Schritten stürmte er raus auf den Gang und diesen hinunter zum Arbeitszimmer Gottes, in dem er Diesen normalerweise antraf. Lucifer wartete nicht auf die Erlaubnis zum Eintreten, sondern stürmte direkt nach dem Klopfen hinein. Hinter dem schweren Schreibtisch saß eine zusammengesunkene Gestalt, den Kopf auf die Arme gelehnt, offenbar in tiefem Schlummer versunken. Lucifer traute seinen Augen kaum.
„Herr!“, rief er laut und aufgebrachter als beabsichtigt. „Wir warten im Konferenzsaal auf Euch!“
Der Mann schreckte auf, starrte Seinen Lieblingsengel eine Sekunde lang groß an, dann sprang Er mit einem unterdrückten, ganz und gar nicht göttlichen Fluch auf. Mit einer schnellen Bewegung zog Er Seine Toga zurecht und eilte über den Gang zum Saal, Lucifer dicht auf den Fersen.
Vor der Tür blieb Er kurz stehen, ließ den Nacken knacken, dann betrat Er gefasst als wäre er nicht erst vor einer halben Minute aufgewacht. Mit einem nachsichtigen Lächeln neigte der Herr grüßend den Kopf in Richtung Satan, der sich prächtig zu amüsieren schien.
„Jahwe!“, sagte der Dämonenkönig in seiner grollenden Stimme. „Du bist spät! Seine Gäste lässt man nicht warten!“
Lucifer konnte förmlich spüren, wie die versammelten Engel bei diesem respektlosen Umgangston ihrem Herrn gegenüber die Luft anhielten, doch Gott ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Mit ungebrochener Güte lächelte er dem Dämonenkönig zu und ließ sich ihm gegenüber nieder.
„Bitte verzeih mir, Satan, es lag nicht in meiner Absicht, dich warten zu lassen. Bitte lass uns beginnen.“
Satan schnaubte abfällig, machte jedoch mit. Natürlich würden die sogenannten Friedensverhandlungen zu keinem Ergebnis führen, doch sie nicht abzuhalten würde nur die öffentliche Unruhe schüren. Nicht, dass die Engel nicht allen Grund hätten, sich zu empören, bei der sozialen Ungerechtigkeit, die derzeit vorherrschte. Bedauerlicherweise gab es immer noch zu wenig Engel, die sich gegen die Verordnungen und Traditionen des Himmels auflehnten und ihr Recht auf eine freie Meinung einforderten.
Bei dem Gedanken an das kommende Treffen am heutigen Abend schlich sich ein Lächeln auf seine farblosen Lippen. Die Zeit für eine Revolution gegen Gott war gekommen!
Höllensturz Kapitel 3
Etwa zwei Dutzend von Lucifer persönlich ausgewählte, absolut vertrauenswürdige Engel gehörten zum Innersten Kreis der Revolutionsbewegegung. Der Großteil von ihnen hatte sich bereits in einer kleinen Lagerhalle am Rande der himmlischen Stadt versammelt, als ihr Anführer, Gottes Lieblingsengel höchstpersönlich, endlich eintraf.
Mit majestätischen Schritten trat Lucifer ein, begrüßte seine engsten Freunde und einige andere, persönlich, verzichtete aufgrund seiner Verspätung doch auf eine kurze Unterhaltung. Suchend glitt sein Blick durch die Reihen der Anwesenden, unter denen sich Engel aus allen Triaden fanden, doch einen blonden, lockigen Haarschopf entdeckte er nicht. Die Erinnerung an die vergangene Nacht und den heutigen Morgen blieb präsent und unwillkürlich tastete Lucifer nach dem Tattoo, das er natürlich nicht spüren konnte.
„Du bist spät“, sprach ihn ein hochgewachsener Engel von hinten an.
„Ich weiß, Arariel“, antwortete Lucifer mit einem leichten Schmunzeln. Er kannte seinen Freund und wusste, wie sehr dieser Unpünktlichkeit oder Unzuverlässigkeit hasste, schließlich bekleidete er als der Seraphim des Meeres eine bedeutende Stellung. Seine unglückliche Liebe zu der Engelin Rosiel, einer Herrschaft aus der mittleren Triade, hatte ihn in diesen Kreis geführt.
„Du solltest dich nicht immer über die Regeln stellen, Lucifer“, murmelte Arariel und es klang eher bedrohlich als ermahnend. „Das wird dir noch übel bekommen.“
Lachend ging Lucifer an ihm vorbei.
„Nur weil ich zu spät hier aufgelaufen bin? Man muss es mit Pflichtbewusstsein auch nicht übertreiben, Arariel. Das passt nicht nicht in eine Gruppe von Verschwörern.“
Während Arariel ihn mit bösen Blicken bedachte, schlenderte der oberste Seraphim bereits weiter zu seinem besten Freund Beliel, einem quirligen kleinen Engel mit haselnussbraunem Haar, der wider Willen in ein Gespräch mit Azazel verwickelt schien. Im Gegensatz zu dem gewieften, hinterhältigen Engel aus der mittleren Triade war der kleine Cherubim die Unschuld vom Lande.
Beide Engel drehten sich zu Lucifer um, als dieser sich ihnen näherte.
„Lu!“, stieß Beliel ein wenig zu