»Nein, nein, ich meine das durchaus so. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und irgendwie gehörte es die letzten Jahre doch zu meinem Leben …«
» … das du jetzt in vollen Zügen genießen solltest. Jetzt, wo die Belastung von dir abgefallen ist. Du hast das Glück so etwas wie einen Neuanfang machen zu können. Herbert wird dir schon dabei helfen. Warum ist er eigentlich nicht mitgekommen?«
»Dumme Frage, weil er Cäsar nicht alleine lassen wollte. Außerdem ist es noch nicht so lange her, dass er das alles selber durchmachen musste.«
»Verstehe, das habe ich nicht bedacht. Ein bisschen fürchte ich mich davor, Papa so zu sehen …«
»Das sagst du? Wo du in deinem Beruf schon so viele Leichen sehen musstest?«
»Es ist schließlich ein Unterschied, ob man einen Fremden oder seinen Vater … Mein einziger Trost ist, dass Papa friedlich eingeschlafen ist. Wenn ich bedenke, welcher Anblick mir üblicherweise geboten wird …«
»Du wolltest es ja nicht anders. Dir hätte klar sein müssen, dass der Beruf kein Zuckerschlecken ist.«
»Nicht schon wieder dieselbe Leier, Mama. Das haben wir wirklich oft genug erörtert.«
Valerie und Karen meldeten sich in der Schwesternstation und wurden kurz darauf von Pfleger Robert, einem blassen, dunkelhaarigen jungen Mann mit schlaksiger Figur, zu Christophs Zimmer begleitet. Robert schloss auf und ließ den beiden Frauen den Vortritt.
Valerie blieb mit einigem Abstand vom Bett ihres Vaters stehen und bemerkte, dass sie feuchte Augen bekam.
»Er sieht aus, als würde er jeden Moment aufwachen«, sagte sie erstickt.
Christoph Voss lag mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen, in denen sich ein Kreuz befand, auf dem Rücken. Sein Gesicht wirkte entspannt, nicht gerade glücklich, wie es bei Toten mitunter vorkommen sollte, aber auch nicht angestrengt oder leidend. Neben seinem Bett standen auf großen Ständern Kerzen, die jetzt von Robert angezündet wurden.
Karen ging auf ihren Mann zu, streichelte sein Gesicht und nahm ihm entschlossen das Kreuz aus den erstarrten Händen.
»Wer hat das angeordnet?«, fragte sie leicht gereizt.
»Das ist in unserem Haus so üblich, Verblichenen ein …«
»Mein Mann war nie fromm«, unterbrach Karen den Pfleger. »Das soll nicht heißen, dass er gottlos war, doch dieses Ritual wäre ihm bestimmt zu viel gewesen. Er war kein gläubiger Katholik im herkömmlichen Sinne. Also nehmen Sie das bitte wieder mit.«
»Ja, wenn Sie es wünschen.« Robert ging etwas pikiert zur Tür. »Ich lasse Sie dann mal allein. Bitte melden Sie sich doch nachher in der Verwaltung wegen der Formalitäten.«
Karen nickte und man sah ihr an, dass sie den Pfleger in diesem Moment lieber von hinten sah.
Valerie ging jetzt nahe an Christoph Voss heran und küsste seinen eiskalten Mund. Dann hielt sie eine Weile stumme Zwiesprache mit ihm. Er war ein guter Vater gewesen und hatte sie nie geschlagen. In jüngeren Jahren war er etwas aufbrausend, um nicht zu sagen cholerisch gewesen. Seine Zornausbrüche hatten Valerie oft erschreckt, doch er war nie handgreiflich geworden. Karen hatte die Hand schon lockerer gesessen, eine gelegentliche Ohrfeige war immer mal drin gewesen. Christophs häufige erotischen Eskapaden hatten das Vater-Tochter Verhältnis nie getrübt, bis er kurz vor seiner Erkrankung zu seiner jüngeren Geliebten gezogen war.
Valeries strikte Weigerung, die neue Frau an seiner Seite kennenzulernen, hatte ihr Vater ziemlich übel genommen. Niemand hätte zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass Valerie diese Frau einmal mögen würde, denn bei einem Essen hatten sie sich auf Anhieb blendend verstanden. Fortan konnte sie nachvollziehen, was Christoph an ihr fand. Sie war so ganz anders als Karen, weniger bürgerlich und nicht so besitzergreifend. Nicole Jakobs Tochter und Christophs beginnende Krankheitssymptome waren letztendlich die Gründe für das Scheitern der Beziehung gewesen. Er war nicht zu seiner Frau zurückgekehrt, sondern hatte sich eine eigene Wohnung genommen. Valerie dachte mit Schrecken an ihren Besuch in der Behausung. An allen Ecken und Enden hatte man wahrnehmen können, wie weit fortgeschritten Christophs Krankheit schon gewesen war.
Dann war Karen über ihren Schatten gesprungen, indem sie ihren Mann wieder bei sich aufnahm. Bis sie einsehen musste, dass er besser in einem Pflegeheim aufgehoben war.
»Komm, Mädelchen, lassen wir deinem Vater jetzt seine Ruhe. Als Nächstes werde ich mich um die Beisetzung kümmern«, holte die Stimme ihrer Mutter Valerie in die Gegenwart zurück.
Karen Voss pustete die Kerzen aus, strich noch einmal über die Hände von Christoph und verließ dann entschlossen das Zimmer. Valerie folgte ihr schweigend.
Draußen auf dem Flur wurde schräg gegenüber eine Tür geöffnet. Eine ältere Dame im Morgenrock mit ungekämmten Haaren winkte Valerie mit dem Zeigefinger heran.
»Sie sind doch von der Kripo, nicht?«, fragte sie mit einer etwas schnarrenden Stimme.
Valerie nickte.
»Dann kommen Sie doch bitte einen Moment herein.«
»Geh schon mal vor zum Verwaltungsbüro«, sagte Valerie zu ihrer Mutter. »Ich komme dann nach.«
Karen blickte etwas irritiert, ging aber schließlich widerspruchslos den Gang entlang.
Im Zimmer der alten Frau schlug Valerie eine Wolke verbrauchter Luft entgegen. »Können wir einen Moment das Fenster öffnen?«, fragte sie direkt.
»Ja, ja machen Sie nur. Ich habe ja meinen wärmenden Morgenmantel an. Bei alten Menschen riecht es manchmal nicht so gut. Aber das werden Sie aus eigener Erfahrung wissen. Wir nähern uns von den Ausdünstungen her schon der Erde, in der wir bald landen werden. Bitte, Sie können gerne den Stuhl nehmen. Ich setze mich aufs Bett.«
»Sie wollten mich sprechen?« Valerie fand die Frau etwas seltsam, ließ sich aber nichts anmerken.
»Sie sollten das mal untersuchen mit den vielen Todesfällen. Hier sterben sie wie die Fliegen. Ich denke, das geht nicht mit rechten Dingen zu …«
»Wie kommen Sie darauf? Haben Sie konkrete Anhaltspunkte? Konnten Sie etwas Ungewöhnliches beobachten?«
»Natürlich. Ich kann nachts schon nicht mehr so gut schlafen, wissen Sie. Ich glaube, das nennt man senile Bettflucht, oder so. Na, jedenfalls schleiche ich manchmal über die Gänge. Sie ahnen nicht, was man da alles beobachten kann, wenn man in andere Zimmer sieht. Nicht mal die Mühe, die Tür zu schließen, macht sie sich, die Hexe, wenn sie ihre todbringenden Spritzen gibt.«
»Wen meinen Sie, eine Ärztin?«
»Nein, die würden sich keine Laus in den Pelz setzen. Die haben ihre Erfüllungsgehilfen. Diese Ruth ist eine von denen.«
»Glauben Sie nicht, dass Sie sich irren? Ich habe Schwester Ruth als eine sympathische Frau kennengelernt, die sich liebevoll um meinen Vater kümmerte.«
»Alles Fassade. Die sind wie Vampire. Nachts zeigen Sie ihr wahres Gesicht. Denken Sie an meine Worte.«
In dem Moment wurde die Tür mit einem Ruck geöffnet. Herein kam eine jüngere Pflegekraft, die ein finsteres Gesicht machte.
»Na, Oma Hildebrandt, erzählen Sie wieder Ihre Schauergeschichten? Ja, ich weiß, in dunklen Ecken lauern Gespenster und Dämonen, bis hin zu Vampiren. Alle wollen Ihr letztes bisschen Blut haben. Was soll die Hauptkommissarin nur von unserem Haus denken? Dass wir alten Menschen nach dem Leben trachten, damit möglichst schnell ein Zimmer frei wird?«
»Was wahr ist, muss wahr bleiben …«
»Ja, Oma Hildebrandt, wir alle haben unsere ganz spezielle Wahrheit, nicht? Ich bin übrigens Schwester Katja. Wir haben uns noch nicht kennen gelernt, glaube ich«, wandte sich die eher unscheinbare Frau mit dem wohlklingenden Namen, der nicht so recht zu ihr passen wollte, an Valerie.«
»Das dürfte ein kurzes Vergnügen sein,