Eine Zeitlang starrte er dort hin, dann wandte er sich wieder zur Limousine, als ob er von dort eine Erklärung erwartete. Drei Leute kamen nun die Straße entlang auf ihn zu, geführt von einem hohen, schlanken, grauhaarigen Herrn mit einem Filzhut und einem langen Staubmantel. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer kleinen Stülpnase, die den Bügeln seines goldenen Kneifers kaum genügend Platz bot. Mr. Barnstaple ließ den Motor an und fuhr ihnen langsam entgegen.
Sobald er sich in Hörweite zu befinden glaubte, blieb er stehen und beugte den Kopf fragend aus der ›Gelben Gefahr‹ heraus. In demselben Augenblick stellte der lange grauhaarige Herr die gleiche Frage: »Mein Herr, können Sie mir sagen, wo wir eigentlich sind?«
5
»Vor fünf Minuten«, sagte Mr. Barnstaple, »hätte ich gesagt, wir sind auf der Maidenhead Road, in der Nähe von Slough.«
»Stimmt!« sagte der lange Herr in einem ernsthaften und nachdrücklichen Ton. »Stimmt! Und ich behaupte, daß nicht die geringste Ursache besteht, anzunehmen, daß wir nicht noch immer auf der Maidenhead Road sind!«
Der herausfordernde Ton des Dialektikers klang aus seiner Stimme.
»Es sieht aber nicht aus wie die Maidenhead Road«, sagte Mr. Barnstaple.
»Zugegeben! Aber haben wir nach dem Anschein zu urteilen, oder haben wir auf Grund der direkten Fortsetzung unserer Erfahrung zu urteilen? Die Maidenhead Road führte hierher, sie stand in lückenlosem Zusammenhang mit dem hier, und darum bleibe ich dabei: das ist die Maidenhead Road!«
»Diese Berge?« gab Mr. Barnstaple zu bedenken.
»Windsor Castle sollte dort sein!« sagte der große Herr strahlend, als ob er einen guten Schachzug getan hätte.
»Es war dort vor fünf Minuten«, sagte Mr. Barnstaple.
»Dann ist es klar, daß diese Berge eine Art Camouflage sind«, sagte der große Herr triumphierend, »und die ganze Geschichte nichts weiter ist als ›Mache‹, wie man es heutzutage nennt.«
»Es scheint merkwürdig gut ›gemacht‹ zu sein!« erwiderte Mr. Barnstaple.
Es entstand eine Pause, während welcher Mr. Barnstaple die Begleiter des langen Herrn musterte. Ihn selbst kannte er ganz genau. Er hatte ihn ein dutzendmal in öffentlichen Versammlungen und bei Festessen gesehen. Es war Mr. Cecil Burleigh, der große Führer der Konservativen. Er war nicht nur ein hochgeachteter Politiker, sondern auch im Privatleben ragte er als Gentleman, als Philosoph und als ein Mann von umfassender Bildung hervor. Hinter ihm stand ein kurzer, untersetzter, nicht mehr ganz junger Mann, den Mr. Barnstaple nicht kannte. Das Unsympathische seiner Erscheinung wurde noch durch ein Monokel verstärkt. Der dritte in der Gruppe war ebenfalls eine bekannte Figur, aber Mr. Barnstaple konnte ihn einige Zeit nirgends einreihen. Er hatte ein glattrasiertes, rundes, derbes Gesicht und war wohlbeleibt; seiner Kleidung nach konnte man ihn entweder für einen Geistlichen der Hochkirche oder für einen wohlbestallten römisch-katholischen Priester halten.
Der junge Mann mit dem Monokel sprach nun mit der Stimme eines Eunuchen: »Es ist kaum einen Monat her, daß ich die Straße nach Taplow Court hinausfuhr, und damals war bestimmt nichts derartiges am Weg zu sehen!«
»Ich gebe zu, es bestehen Schwierigkeiten!« sagte Mr. Burleigh. »Ich gestehe, es sind sogar bedenkliche Schwierigkeiten vorhanden, immerhin wage ich noch zu glauben, daß meine Behauptungen im wesentlichen zu Recht bestehen.«
»Sie glauben nicht, daß dies die Maidenhead Road ist?« fragte der Herr mit dem Monokel mit herausfordernder Miene Mr. Barnstaple.
»Für ein Machwerk sieht es zu vollkommen aus«, erwiderte Mr. Barnstaple mit sanfter Hartnäckigkeit.
»Aber, mein Herr«, protestierte Mr. Burleigh, »diese Straße ist doch allgemein durch die Kunstgärtner bekannt, die manchmal aus Reklamegründen die erstaunlichsten Schaustellungen veranstalten.«
»Warum fahren wir dann jetzt nicht geradeaus weiter nach Taplow Court?« fragte der Herr mit dem Monokel.
»Weil«, sagte Mr. Burleigh mit einem Ton von Schroffheit, die ganz natürlich ist, wenn man immer wieder auf eine Tatsache zurückkommen muß, die schon genau bekannt ist und eigensinnig übersehen wird, »weil Rupert dabei bleibt, daß wir in einer anderen Welt seien und er nicht weiter will. Das ist der Grund! Er hat immer zuviel Einbildungskraft gehabt. Er glaubt, daß Dinge, die nicht existieren, doch existieren können. Und jetzt glaubt er sich in irgendeinen wissenschaftlichen Roman versetzt, außerhalb unserer Welt, in einer anderen Dimension. Manchmal glaube ich, es wäre für uns alle besser gewesen, wenn Rupert sich damit beschäftigt hätte, Romane zu schreiben, anstatt sie zu erleben. Wenn Sie, als sein Sekretär, glauben, daß Sie ihn dazu bringen können, zur rechten Zeit in Taplow zu sein, um mit den Leuten aus Windsor zu frühstücken …« Mr. Burleigh deutete durch eine Gebärde an, daß er für solche Ideen keine passenden Worte finden könne.
Indessen hatte Mr. Barnstaple eine hohe Gestalt mit gelblicher Gesichtsfarbe unter einem grauen Zylinder mit schwarzem Band, eine aus Karikaturen vertraute Erscheinung, bemerkt, die mit langsamen Bewegungen das Blumengewühl neben der Limousine untersuchte. Dies konnte niemand anderer sein als der berühmte Rupert Catskill, der Staatssekretär im Kriegsministerium. Ausnahmsweise befand sich Mr. Barnstaple in voller Übereinstimmung mit diesem allzu abenteuerlustigen Politiker. Dies war eine andere Welt. Barnstaple stieg aus dem Wagen und wandte sich an Mr. Burleigh: »Ich denke, mein Herr, wir werden es eher aufklären können, wo wir sind, wenn wir das hier nebenan brennende Gebäude untersuchen. Mir war soeben, als ob ich eine auf dem Hang hinter dem Hause liegende Gestalt gesehen hätte. Wenn wir nur einen von diesen Flunkerern fangen könnten …« Er ließ diesen Satz unbeendet, weil er nicht einen Augenblick daran glaubte, daß sie gefoppt seien. Mr. Burleigh war in den letzten fünf Minuten sehr in seiner Achtung gesunken. Alle vier wandten ihre Gesichter der rauchenden Ruine zu.
»Es ist doch sehr eigentümlich, daß weit und breit keine Seele zu sehen ist«, bemerkte der Monokelmann, den Horizont absuchend.
»Gut, es kann nicht schaden, nachzusehen, was da brennt«, sagte Mr. Burleigh und lenkte seine Schritte nach dem zusammengestürzten Haus zwischen den umgebrochenen Bäumen, wobei er seine schlaue, besserwissende Miene beibehielt. Aber ehe er noch ein Dutzend Schritte gemacht hatte, wurde die Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe durch einen lauten Schreckensschrei der Dame, die in der Limousine sitzen geblieben war, wieder dahin gelenkt.
6
»Das ist aber wirklich zuviel!« rief Mr. Burleigh in aufrichtiger Entrüstung. »Es muß doch polizeiliche Verordnungen geben, um solchen Unfug zu verhindern!«
»Er ist einem Wanderzirkus entsprungen«, sagte der Herr mit dem Monokel. »Was sollen wir tun?«
»Er sieht zahm aus«, sagte Mr. Barnstaple, aber ohne die geringste Neigung, seine Theorie zu erproben.
»Wie leicht kann man durch so etwas sehr ernstlich erschreckt werden«, sagte Mr. Burleigh. Und in einem beruhigenden Ton rief er:
»Rege dich nicht auf, Stella! Er ist wahrscheinlich ganz zahm und harmlos, reize ihn nicht mit dem Sonnenschirm, er könnte dich anfallen, Stella!«
Er war ein großer und schöner Leopard, der ganz leise aus den Blumen aufgetaucht war und sich wie eine gewaltige Katze mitten auf die gläserne Straße neben den großen Wagen gesetzt hatte. Er blinzelte und bewegte den Kopf rhythmisch von einer Seite auf die andere mit einem erstaunten und interessierten Ausdruck, weil die Dame, wie es für solche Anlässe der Tradition entspricht, ihren Schirm, so schnell sie nur konnte, gegen ihn auf- und zuklappte. Der Chauffeur hatte hinter dem Wagen Deckung genommen. Mr. Rupert Catskill, der offenbar erst durch den Schrei, welcher die Aufmerksamkeit Mr. Burleighs und seiner Gefährten erregt hatte, die Existenz jenes Wesens bemerkte, stand, knietief in den Blumen, verblüfft da.
Mr. Catskill war der erste, der handelte, und seine Handlungsweise bewies seinen Mut; sie war zugleich vorsichtig und kühn.