Bestrafte Neugier
Suse hatte inzwischen das Planetarium von außen betrachtet. Wie ein Tempel schaute es aus mit seiner Säulenvorhalle. Ach, und was für herrliche bunte Herbstastern die Rasenflächen davor schmückten.
Herbert, fürwitzig wie stets, hatte sich zum Eingang gepirscht, aus dem die Menge ins Freie strömte. Die Neugier ließ ihm keine Ruhe. Es gelang ihm, unbemerkt durch eine Lücke hineinzuschlüpfen.
So – nun war er drin. Er kroch unter eine Bank, um nicht bemerkt und hinausgewiesen zu werden. Einen Blick mußte er wenigstens in das ersehnte Planetarium tun.
Pah – das war alles? Herbert erblickte ein Riesenrondell, etwa wie einen Zirkus. Bänke standen darin, viele Bänke. In der Mitte war ein mächtig großer Apparat aufgestellt. Darüber wölbte sich die gewaltige Himmelskuppel; eine weiße, netzartige Stoffkuppel schien es zu sein. Das war alles. Keine Spur von Sternen. Grenzenlos enttäuscht war der Junge. Und davon machte der Vater solch ein Aufhebens? Herbert hatte doch zumindest gedacht, daß der Himmel mit allen Sternbildern dort zu sehen sei. Nichts davon. Eine langweilige weiße Kuppel. Na, sobald ging er nicht wieder in das olle Planetarium hinein.
Er sollte aber auch sobald nicht wieder herauskommen. Denn als Herbert gerade noch den großen Apparat, der in der Mitte des Raumes ausgestellt war, näher in Augenschein nehmen wollte, ob das wohl ein Fernrohr sei, gab es einen lauten Knall. Krach – da flog die Eingangstür zum Planetarium zu. Der Schlüssel drehte sich zweimal im Schloß. Dunkelheit herrschte plötzlich.
Entsetzt sprang der Junge zur Tür, stieß sich in der Finsternis das Knie an den Bänken und rüttelte, als er die Eingangstür endlich gefunden, mit aller Gewalt daran. Der Diener würde schon aufmerksam werden.
Aber der Diener hatte, nachdem er das Planetarium abgeschlossen hatte, sich sofort nach Hause begeben. Der dachte nicht daran, daß sich da einer verkrochen haben könnte. Es war ja Sonntag heute. Da wollte er auch was von seiner Familie haben. Um vier ging die Nachmittagsvorführung wieder an.
Herbert begann es in dem dunkeln, großen Raum eigentümlich beklommen zumute zu werden. Er versuchte über seine unfreiwillige Gefangenschaft zu lachen. Aber sein Lachen dröhnte in dem leeren Raum schauerlich, als ob nicht einer, sondern viele lachten. Er war doch sonst solch ein beherzter Junge.
Wieder begann er aus Leibeskräften an der Tür zu rütteln. Himmelmohrenelement – man mußte ihn doch hören, ihn vermissen. Der Vater kannte doch seinen Jungen. Der würde es sich schon denken können, daß er nur mal einen Blick hatte hineinwerfen wollen. Vater war ja der Direktor vom Planetarium. Er hatte sicher die Schlüssel dazu und würde ihn gleich aus seiner Dunkelhaft befreien.
Aber Minute auf Minute verstrich – Ewigkeiten schienen sie Herbert. Keiner kam. Keiner suchte ihn.
Ja, vermißte denn die Suse ihren Zwilling nicht? Und Mutti? Und wo war denn Bubi? Ach, wenn Bubi doch wenigstens bei ihm gewesen wäre. Doch ein lebendes Wesen in dieser herzbeklemmenden Stille und Finsternis.
War es nicht zum Lachen? Er, der Sohn des Planetariumdirektors, war hier in dem Institut des eigenen Vaters gefangen. Wirklich, es war zum Lachen. Und Herbert tat gerade das Gegenteil davon. Er begann zu heulen, als ob er noch ein kleiner Abc-Schütze wäre und nicht ein großer Quartaner.
Aber vermißte man ihn denn wirklich nicht?
Freilich, Suse, das getreue Schwesterchen, war die erste, die fragte: »Wo ist denn Herbert?«
»Sicher schon am Gartenausgang«, meinte die Mutter. »Der Junge kann ja nie genug bekommen. Es geht ihm mal wieder zu langsam.«
»Ja, da ist ja auch Bubi«, sagte der Vater, auf den Köter, der sie bereits am Ausgang erwartete, weisend. Freilich, Bubi war da. Aber von Herbert keine Spur, soweit man auch die Marienstraße auf und ab blickte.
Hm – der Schlingel mußte doch immer seine eigenen Wege einschlagen. Nun, sie würden dasselbe tun. Wenn er sich der väterlichen Führung entzog – schön. Verloren konnte er ja hier in Jena nicht gehen.
»Komm, Suschen«, rief der Professor das Töchterchen, das den Kopf immer noch rückwärts drehte. »Schau, hier ist der Botanische Garten. Da gehen wir mal an einem Nachmittag hin. Es ist eine herrliche Anlage. In dem Inspektorhäuschen hat Goethe mehrere Sommer lang gewohnt. Er hat dort ein Gedicht auf den fremdartigen Baum vor seinem Fenster, Gingko heißt er, verfaßt. Der Baum ist heute noch zu sehen.«
»Gingko? Ist das ein drolliger Name. Den habe ich noch nie gehört«, verwunderte sich Suse.
»Es ist auch ein höchst merkwürdiger Baum, ein Zwischending zwischen Nadel- und Laubbaum. Er kommt aus China und Japan und hat, trotzdem er zu den Nadelbäumen gehört, dicke, fleischige Blätter«, erzählte der Vater. »Solch ein Gingkobaum soll über tausend Jahre alt werden.«
Nun hatte Suse für alles, was Blumen und Pflanzen hieß, Interesse, mehr noch als für Goethe. Aber augenblicklich interessierte sie nur der fehlende Herbert. Wo mochte er nur stecken?
Auch die Mutter blieb alle paar Schritte stehen und hielt Umschau. Eine Mutter beruhigt sich ja nicht so leicht. »Kann unser Junge denn nicht noch im Prinzessinnengarten sein, Paul? Der Hund läuft doch immer dahin zurück.«
»Er sucht seinen kleinen Herrn. Sicher hat sich Herbert irgendwo versteckt und überfällt uns dann plötzlich aus dem Hinterhalt. Er macht ja gern derartige Flausen. Der Mosjö selbst hat ja den größten Schaden davon, daß er um die Erklärungen bei der Führung durch die Stadt kommt.« Der Professor war ärgerlich auf den Sohn, der die Harmonie des ersten gemeinsamen Spazierganges in Jena störte. Denn auch die Mutter hatte nicht mehr die rechte Ruhe und Andacht für die Denkwürdigkeiten der alten Stadt.
Suse aber hatte gar keine Freude an dem Neuen. Ihr zweites Ich fehlte. Wenn er doch irgendwo aus dem Hinterhalt hervorgeschossen wäre und sie noch so sehr erschreckt hätte. Am liebsten hätte sie es wie Bubi gemacht, der drei Schritte voranlief und dann wieder zurück.
Der Fürstengraben mit den herrlichen alten Linden und Kastanien, die zum Teil noch aus dem siebzehnten Jahrhundert stammten und von denen sie sonst begeistert gewesen wäre, machte gar keinen Eindruck auf sie. Sie zog den Vater, der sie auf das alte, efeuumrankte Frommannsche Haus, in dem Goethe mit seinen Freunden manchen Abend verlebt hatte, aufmerksam machte, aufgeregt weiter. Was fragte sie nach Goethe, wenn ihr Herbert verschwunden war?
»Wir wollen nach Hause gehen, Vatichen, ja? Herbert ist gewiß ins Sternenhaus zurückgegangen«, bat sie.
»Möglich. Schadet ihm gar nichts, wenn er dann draußen stehen muß, bis wir kommen. Wozu muß er immer eine Extrawurst haben?« Ruhig setzte der Vater seinen Weg fort.
Scharen von Studenten kreuzten ihren Weg. Wo sie sich blicken ließen, flogen die bunten Mützen grüßend in die Luft. Professor Winter hatte sich trotz der kurzen Zeit bereits Beliebtheit und Anerkennung bei seinen jungen Hörern erworben.
Suse gewahrte es kaum. Betrübt zog sie ihres Weges, Bubi ebenso betrübt hinterdrein mit gesenktem Schwänzchen.
Nicht mal das altersgraue Rathaus, das mehr als fünfhundert Jahre auf den Marktplatz herabblickte, fesselte sie. Nur nach Herbert schaute sie aus. Wo sie einen Jungen im Kieler Matrosenanzug erblickte, glaubte sie ihn gefunden zu haben.
»Suschen, achte auf die Turmuhr des Rathauses. Gleich schlägt es eins. Dann erscheint der Schnapphans, eins der sieben Wunder Jenas«, machte der Professor sein Töchterchen aufmerksam.
Dumpf dröhnte es vom Turm, und – »da ist er!« rief die Mutter, auf den Teufel, den sogenannten Schnapphans, der mit voller Stunde über das Zifferblatt hinweg nach einem Apfel schnappt, weisend.
»Wo – wo?« rief Suse aufgeregt.
»Dort oben mit dem Apfel.«
»Unser Herbert?«
»Aber Kind, der Schnapphans oben auf der Turmuhr. Hast du denn nicht beobachtet, wie der Pilger dem Teufel den Apfel auf einer Stange reicht?« fragte der Vater unzufrieden, daß Suse