Aber als er bei Mareike ankam, war sie in hektischer Aufbruchstimmung.
»Du, ich habe gar keine Zeit«, sagte sie, während sie in ihrem Zimmer hin und her lief, Klamotten in einen Leinenbeutel stopfte, sich dann offenbar anders entschied und alles wieder auspackte, nur um gleich darauf die Hälfte doch wieder einzupacken.
»Wir fahren mit ein paar Leuten nach Burglengenfeld.«
»Wo ist das denn?«
»In der Nähe von Wackersdorf.«
Er schaute ihr zu, wie sie noch einmal von vorn anfing, ihren Beutel zu packen.
»Was nimmt man denn da mit?«, fragte sie mehr sich selbst und kratzte sich ratlos am Kopf.
»Wollt ihr am Bauzaun protestieren?«
Sie hielt inne und blickte ihn entgeistert an.
»Du solltest öfter mal Zeitung lesen. Da findet morgen und übermorgen das Anti-WAAhnsinns-Festival statt. Ist zwar sehr kurzfristig, aber Kolle meinte, wir kommen schon noch irgendwie rein. Tut mir echt total leid, dass das jetzt so plötzlich kommt. Du hast doch noch keine Pläne für uns gemacht, oder? Weißt du, bis vor drei Tagen stand ja nicht mal fest, ob das Festival überhaupt stattfindet. Die CSU wollte das mit aller Macht verhindern. Kannst du dir das vorstellen? Dieser Franz Josef Strauß, der hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun. Tschernobyl hat der wohl für nen Gerücht gehalten.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Jedenfalls wollen wir heute schon losfahren, weil bis nach Bayern ist es ja noch eine lange Fahrt. Und der alte Bulli von Kolle schafft auf der Autobahn nur mit viel gutem Willen 80 km/h.«
Johannes hatte Mühe, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. Er war es durchaus gewohnt, dass Mareike auch etwas ohne ihn unternahm, mit ihren anderen Freunden. Aber sie hätte ihn ja wenigstens mal fragen können, ob er mitkommen wollte.
Manchmal hatte er den Eindruck, sie wollte ihn von ihrem Freundeskreis fernhalten, als passe er da nicht rein. Und wahrscheinlich stimmte das auch. Die waren für seinen Geschmack alle zu selbstgestrickt. Jute statt Plastik und so ein Zeugs. Gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu protestieren, wäre ihm zum Beispiel nie in den Sinn gekommen. Sein Vater hatte einmal die abschließenden Worte zu dem Thema gefunden: Irgendwo musste das verstrahlte Zeugs doch hin.
»Wer spielt denn da so?«, fragte er betont lässig.
»Darum geht es ja gar nicht. Wir protestieren. Darauf kommt es an.«
Johannes ging davon aus, dass es den meisten Besuchern des Open-Air-Festivals eher um die Musik ging, aber es war unnötig, deswegen einen Streit vom Zaun zu brechen. Da er nun sein erstes Ferienwochenende ohne Mareike verbringen würde, musste er umdisponieren.
»Tja, dann wünsche ich euch viel Spaß da unten in Bayern.«
Er hätte am liebsten noch eine bissige Bemerkung gemacht, aber auf seine Eifersüchteleien wegen Kolle reagierte Mareike erfahrungsgemäß ziemlich allergisch.
Sie hielt inne und sah sich kurz suchend um.
»Kannst du beim Runtergehen vielleicht den Müll mitnehmen?«
Sie deutete auf einen Karton mit alten Zeitschriften und Obstabfällen.
Schlecht gelaunt hob Johannes den Karton vom Boden auf. Mareike kam zu ihm hin und küsste ihn auf die Wange.
»Wenn ich wieder da bin, fahren wir zum Hücker Moor, versprochen.«
Er nickte und schob sich an ihr vorbei zur Tür hinaus. Als er sich noch einmal umdrehte, war sie schon wieder mit ihrem Beutel beschäftigt.
Johannes verließ mit dem Müll das Haus und stellte den Karton oben auf die bereits überquellende Mülltonne. Dabei fiel sein Blick auf einen Flyer, der unter einem abgenagten Apfelgehäuse hervorlugte. Geist & Traum – Gesellschaft für Spiritualität und Mystik, las er da.
»Ach du meine Güte«, murmelte er. »Was für ein hochtrabendes Gesülze ist das denn?«
Mareike hatte manchmal so seltsame Anwandlungen, aber das klang selbst für sie etwas übertrieben. Es war eine Sache, sich ganz handfest gegen Atomkraft zu stellen, aber etwas ganz anderes, so Pendelgedöns zu betreiben. Da konnte er dann einfach nicht mehr folgen. Außerdem klang ihm das für seinen Geschmack ein wenig zu sehr nach Sekte. Er zog den fleckigen Flyer unter dem Apfelrest hervor und faltete ihn auseinander. Als er aber hinter sich das Klappen einer Tür hörte, steckte er den Zettel in die Hosentasche und ging schnell zu seinem Fahrrad. Er wollte sich keineswegs von einem der anderen Hausbewohner nachsagen lassen, er würde in deren Müll wühlen.
*
»Bastelst du schon wieder mit diesem ekeligen Zeug herum?«, fragte Annette, als Clemens am Freitagmittag in die Küche kam. Sie deutete auf die fleckige Schürze, die er noch umgebunden hatte.
»Das ekelige Zeug ist Epoxidharz und ziemlich nützlich.«
»Ich wette, es ist hochgiftig.«
»Nein, es ist sogar lebensmittelecht.«
Annette seufzte, schüttelte den Kopf und wechselte das Thema. Wie immer, wenn sie merkte, dass er die besseren Argumente hatte, sie es aber nicht zugeben wollte.
»Du bist gestern ausgegangen«, meinte sie mit übertriebener Freude. »Als ich kurz nach Hause kam, warst du nicht da.«
»Und?«
»Wo warst du?«
»Kino.«
»Welcher Film?«
»Gar keiner.«
»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du im Kino warst.«
»Nein, ich sagte lediglich Kino. Ob drinnen oder nur davor, daneben, darunter oder darüber, das sagte ich nicht.«
Annette tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Also, manchmal …«
»Sonst noch was?« Er holte eine Packung Brot aus dem Schrank, um sich eine Stulle zu machen. »Musst du nicht arbeiten?«
»Ich habe Mittagspause. Hier, habe ich dir mitgebracht.« Sie holte eine Zeitschrift aus ihrer übergroßen Handtasche und legte sie auf den Küchentisch.
Clemens blickte kurz von seinem Brot auf, dann sah er seine Schwester vorwurfsvoll an.
»Ist das dein Ernst?«
»Teenager lesen das.«
»Ich bin kein Teenager.«
»Clemens, du bist sechzehn. Damit fällst du eindeutig in die Kategorie Teenager. Auch wenn du beneidenswert wenig Pickel hast.«
Er konnte ihr einfach nicht vermitteln, dass er sich aber nicht so fühlte, wie seine pubertierenden Altersgenossen. Manchmal bedauerte er das, weil es dann doch nicht immer so leicht war, ein Außenseiter zu sein. Aber er wusste, er würde niemals dazugehören, da half auch keine BRAVO.
Missmutig betrachtete er das Cover. Eine Ansammlung von bekannten Gesichtern, die ihm allesamt egal waren. Lediglich ein kleines Foto von David Bowie erregte seine Aufmerksamkeit, aber das Stichwort 'Songtexte' ließ ihn Schlimmes erahnen. Die beklagenswerten Versuche, die englischen Songtexte für deutschsprachige Leser zu übersetzen, waren allesamt schaurig und zum Scheitern verurteilt.
Es entging ihm nicht, dass seine Schwester ihn sehr genau beobachtete. Versuchte sie herauszufinden, welcher Star seinen Geschmack traf?
»Du erwartest aber nicht, dass ich mir so ein Poster an die Wand hänge, oder?«, fragte er spöttisch.
»Wieso nicht? Morten Harket oder Matt Dillon, die sehen doch ganz schnuckelig aus, findest du nicht?«
Er