Am Abend vor dem Begräbnis war er wie gewöhnlich betrunken, und es war fürchterlich, ihn in unserem Trauerhause sein scheußliches altes Schifferlied brüllen zu hören; aber so schwach er auch war, wir hatten alle eine Todesangst vor ihm, und der Doktor war bei einem Schwerkranken, der viele Meilen entfernt wohnte und zu dem man ihn plötzlich gerufen hatte; deshalb kam er nach meines Vaters Tod nicht ins Haus.
Wie ich bereits sagte, war der Kaptein schwach; ja, er schien sogar immer schwächer zu werden, statt wieder zu Kräften zu kommen. Er kletterte die Treppe hinauf und wieder herunter und ging aus der Schenkstube in den Zapfraum und wieder zurück; und manchmal steckte er seine Nase aus der Türe und schnüffelte in die Seeluft hinein, und dabei hielt er sich an den Wänden fest, um sich zu stützen, und keuchte laut und schnell, wie wenn er einen steilen Berg hinanginge. Niemals redete er mich an, und ich bin der Meinung, er hatte seine Mitteilungen so gut wie vergessen; aber er brauste noch leichter auf als gewöhnlich und war in Anbetracht seiner körperlichen Schwäche heftiger denn je. Er hatte eine beunruhigende Manier, wenn er betrunken war, seinen kurzen Säbel zu ziehen und die blanke Waffe vor sich auf den Tisch zu legen. Trotz alledem aber kümmerte er sich weniger als sonst um die Leute und war allem Anschein nach mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Einmal stimmte er zu unserer großen Überraschung eine ganz neue Melodie an, ein altmodisches Liebeslied, das er wahrscheinlich in seinen Jugendjahren gekannt hatte, bevor er zur See gegangen war.
So gingen die Dinge ihren Gang. Aber am Tage nach dem Begräbnis, gegen drei Uhr an einem bitterkalten, nebligen Nachmittag, stand ich einen Augenblick vor der Tür, voll von traurigen Gedanken an meinen Vater. Da sah ich einen Mann langsam auf der Straße näher kommen. Er war offenbar blind, denn er tastete mit einem Stock vor sich her und trug einen breiten grünen Schirm über Augen und Nase; sein Rücken war gekrümmt, entweder vom Alter oder von Schwäche, und er trug einen großen, alten, zerlumpten Schiffermantel mit einer Kapuze. Nie in meinem Leben hatte ich eine so fürchterlich aussehende Gestalt erblickt. Dicht vor unserem Gasthof blieb er stehen und sagte in einem eigentümlich singenden Ton, wie wenn er in die Luft hineinspräche:
»Will ein freundlicher Mensch so gut sein, einem armen Blinden Bescheid zu sagen, der das kostbare Augenlicht in tapferer Verteidigung seines Vaterlandes England verloren hat – Gott schütze König Georg! – und würde er ihm Bescheid sagen, in welcher Gegend des Landes er wohl in diesem Augenblick sein mag?«
»Ihr seid beim ›Admiral Benbow‹ an der Blackhillbucht, mein guter Mann,« sagte ich.
»Ich höre eine Stimme,« sagte der Blinde, »eine junge Stimme. Wollt Ihr mir Eure Hand geben, mein gütiger junger Freund, und mich hineinführen?«
Ich streckte meine Hand aus, und dieses greuliche blinde Geschöpf mit der sanften Stimme packte sie und hielt sie wie in einem Schraubstock. Ich bekam einen solchen Schreck, daß ich meine Hand losreißen wollte; aber der Blinde zog mich mit einer einzigen Armbewegung dicht an sich heran und sagte:
»Nun, mein Junge, bringe mich zum Kaptein.«
»Herr!« rief ich; »auf mein Wort, das wage ich nicht.«
»Oh!« sagte er spöttisch, »wenn's weiter nichts ist! Führe mich sofort hinein, sonst breche ich dir deinen Arm!«
Und bei diesen Worten gab er mir einen Druck, daß ich laut aufschrie.
»Herr, ich wage es um Euretwillen nicht. Der Kaptein ist nicht mehr, wie er früher war. Er sitzt mit gezogenem Säbel an seinem Tisch. Ein anderer Herr –« »Ach was, marsch!« unterbrach er mich. Ich hatte niemals eine so grausame, kalte, unangenehme Stimme gehört wie die dieses Blinden. Sie machte mir noch mehr Angst als der Schmerz von seinem Handdruck; darum gehorchte ich ihm sofort und ging mit ihm in die Tür hinein und nach der Schenkstube, wo unser alter Freibeuter saß, der vom Rum halb benebelt war. Der Blinde hielt sich dicht an mich, ohne seine eiserne Faust von mir abzulassen, und sagte:
»Führe mich dicht an ihn heran, und wenn ich gerade vor ihm stehe, dann sage: ›Hier ist ein Freund von Euch‹. Wenn du das nicht tust, dann tu ich was anderes!«
Und damit gab er mir wieder einen Druck, daß ich dachte, ich würde ohnmächtig. Ich hatte eine so fürchterliche Angst vor dem blinden Bettler, daß ich an meine Angst vor dem Kaptein gar nicht dachte, und als ich die Tür zur Schenkstube aufmachte, rief ich mit zitternder Stimme die Worte, die der Blinde mir befohlen hatte.
Der arme Kaptein blickte auf, und auf den ersten Blick verschwand der Rumdunst aus seinem Kopf, und er war vollständig nüchtern. In seinem Gesichtsausdruck lag nicht so sehr Furcht als tödliche Krankheit. Er machte eine Bewegung, wie wenn er aufstehen wollte; aber ich glaube, er hatte nicht mehr Kraft genug in seinem Leibe.
»Na, Bill, bleibe nur ruhig sitzen,« sagte der Bettler. »Wenn ich auch nicht sehen kann, so kann ich dafür hören, wenn einer einen Finger rührt. Geschäft ist Geschäft. Strecke deine linke Hand aus! Junge, nimm seine linke Hand am Gelenk und bringe sie an meine rechte heran!«
Wir gehorchten ihm beide auf den Buchstaben, und ich sah, wie er mit der Hand, die den Stock hielt, etwas in des Kapteins Hand legte, die sich sofort schloß.
»Na, das ist also abgemacht!« sagte der Blinde; und mit diesen Worten ließ er mich plötzlich los und lief mit unglaublicher Sicherheit aus der Schenkstube heraus und auf die Straße. Ich stand regungslos da und hörte, wie das Auftappen seines Stockes sich allmählich in der Ferne verlor.
Es dauerte eine ziemliche Zeit, bis der Kaptein und ich wieder zur Besinnung kamen; schließlich ließ ich sein Handgelenk los, das ich immer noch gehalten hatte, und er öffnete seine Faust beinahe in demselben Augenblick und warf einen scharfen Blick in die hohle Hand und rief:
»Um zehn, noch sechs Stunden. Dann wollen wir sie noch anführen!«
Er sprang auf. Aber in demselben Augenblick taumelte er, fuhr mit der Hand an seine Kehle, schwankte einen Augenblick hin und her und fiel dann, indem er einen sonderbaren Ton ausstieß, seiner ganzen Länge nach auf den Fußboden.
Ich lief sofort zu ihm und rief nach meiner Mutter. Aber unsere Eile hatte keinen Zweck mehr. Der Kaptein hatte einen neuen Schlaganfall bekommen und war tot.
Es ist merkwürdig: ich hatte gewiß diesen Mann niemals geliebt, wenn er auch in der letzten Zeit mir leid getan hatte; aber sobald ich sah, daß er tot war, brach ich in eine Flut von Tränen aus. Dies war der zweite Todesfall, den ich erlebte, und der Kummer um den ersten war noch frisch in meinem Herzen.
Viertes KapitelDie Schifferkiste
Natürlich erzählte ich meiner Mutter sofort alles, was ich wußte und was ich ihr vielleicht schon längst hätte erzählen sollen. Wir erkannten sogleich, daß wir uns in einer schwierigen und gefährlichen Lage befanden.
Ein Teil von dem Gelde des Kapteins – wenn er überhaupt welches hatte – gehörte ohne Zweifel uns; aber es war nicht wahrscheinlich, daß unseres Kapteins Schiffskumpane, von denen ich zwei Musterexemplare gesehen hatte, den Schwarzen Hund und den blinden Bettler, geneigt sein würden, ihre Beute herauszugeben, um damit die Schulden des Toten zu bezahlen. Wenn ich den Befehl des Kapteins befolgt hätte, mich sofort auf ein Pferd gesetzt und Dr. Livesey geholt hätte, so wäre meine Mutter allein und ohne Schutz geblieben; daran war natürlich nicht zu denken. Ebenso unmöglich erschien es uns beiden, noch viel länger im Hause zu bleiben; wir erschraken, wenn nur eine Kohle in der Küche raschelte, ja sogar vor dem Ticken der Wanduhr. Unsere Ohren glaubten in der Nachbarschaft Schritte zu hören, die sich unserem Haus näherten. Auf dem Fußboden der Schenkstube lag der Leichnam des Kapteins, und um ihn schwebte gewissermaßen die Gestalt des abscheulichen blinden Bettlers, der jeden Augenblick zurückkehren konnte. Fortwährend sträubten sich die Haare auf meinem Kopfe, und ich bekam eine Gänsehaut, wie man zu sagen pflegt.
Jedenfalls mußten wir schnell zu irgendeinem Entschluß