Natürlich konnte Toritaka seinem Assistenzinspektor das unmöglich verständlich machen. Kakiden Tatsuhiro war bereits vom liberalen Geist der "neuen Zeit" infiziert. Im Gegensatz zum seinem ledigen Vorgesetzten war er verheiratet und hatte zwei Töchter, dreizehn und sechzehn Jahre alt, und die beiden Mädchen gehörten zu der Sorte Jugendlicher, die nicht einmal so viel Gemeinschaftssinn hatten, dass sie in ihrer Freizeit die Schuluniform anbehielten. Wer seine Kinder so aufzog, der hatte kein Verständnis für die Vorzüge der alten Zeiten.
Überhaupt hatten nicht viele Leute Verständnis für die Ansichten des Inspektors, weshalb er sie auch nur noch selten äußerte. Er wusste, dass hinter seinem Rücken deswegen über ihn geredet wurde, und mit Sicherheit gab es eine Menge Spott, aber er war ein guter Polizist und als Ermittler immer korrekt gewesen (mit der Ausnahme der Beinahe-Erpressung Somachis). Superintendent Asashi Hayao wusste, was er an ihm hatte und war auch gerne bereit, ihn bei seinen Fahndungen ein wenig zu unterstützen, wenn es denn nicht noch einmal auf einen öffentlichen Eklat hinauslief, und in der "U-Bahn-Razzia" hatte er persönlich grünes Licht gegeben. Der Einsatz war abgedeckt, selbst wenn von den Frauen, die man belästigt hatte, keine zu einer Anzeige bereit gewesen wäre. Und den Abschreckungseffekt durfte man auch nicht vergessen.
Im Hauptpräsidium angekommen, beauftragte Toritaka seinen Assistenzinspektor mit dem Anfertigen der Berichte. Eigentlich hätten beide jetzt schon problemlos in den Feierabend gehen können, doch obwohl die Polizeigewerkschaft schon vor Jahrzehnten klare Richtlinien für die Arbeitszeiten durchgesetzt hatte, war nahezu jeder Polizist rund um die Uhr im Dienst, und jede "Freizeit" bestand aus den Stunden, in denen es nicht viel zu tun gab oder aus den wenigen Tagen, die man als Urlaub angemeldet hatte. Auch der Inspektor selbst blieb noch lange auf seinem Büro. Einerseits wollte er noch alle Rückmeldungen der Polizeibeamten abwarten, die sich in der U-Bahn um die Belästigungsopfer gekümmert hatten (und hoffentlich viele davon zu einer Anzeige hatten überreden können), und außerdem musste er noch Mainichi informieren.
Die "Mainichi Daily News" waren eigentlich ein furchtbar unseriöses Sensationsblatt, das niemand kaufte, der halbwegs etwas auf sich hielt. Seltsamerweise wusste trotzdem jeder, wie die neuesten Schlagzeilen in den "Mainichi Daily News" lauteten, besonders die Schlagzeilen in der Sektion "Wai Wai", wo die besonders wilden Geschichten abgedruckt waren: Enthüllungsberichte über Hausfrauen als nebenberufliche Pornostars, kannibalisch veranlagte Grundschüler oder verrückte Lebensmittelskandale fanden sich hier regelmäßig, und eine Polizeimeldung über eine erfolgreiche Jagd auf U-Bahn-Grabscher in Tokyo würde sicherlich abgedruckt werden. Wenn er noch die Aussage Gorei-sans bezüglich des älteren Sittenstrolchs erwähnte, hatte er den Artikel sicher, und das würde das öffentliche Interesse wieder einmal auf das Problem der sexuellen Belästigung lenken.
Vielleicht waren die Methoden nicht ganz die richtigen, aber sie hatten den richtigen Effekt.
Es war schon nach dreiundzwanzig Uhr, als Inspektor Toritaka den Pressebericht fertig geschrieben und per Mail an die Redaktion der "Mainichi Daily News" geschickt hatte. Von immerhin fünf Belästigungsopfern waren Anzeigen eingegangen (und darunter auch, was ihn besonders freute, das Opfer des älteren graumelierten Herren), und zwei weitere hatten ihre Adressen hinterlassen und gesagt, sie wollten sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Solche Erfolge waren in der Polizeiarbeit selten, und der Beamte stellte für sich fest, dass er nun beruhigt in den Feierabend fahren konnte. Er schaltete seinen PC und das Licht im Büro aus, schloss ab, verabschiedete sich von den Kollegen von der Nachtschicht und vom Personal am Empfang des Präsidiums, dann ging er in die Tiefgarage und stieg in seinen privaten kleinen Honda. Er wohnte am Stadtrand, um diese Zeit etwa eine halbe Autostunde entfernt, und es bedeutete ihm eine Menge, nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Sicher, es war ein Gemeinschaftserlebnis, mit Bussen und Bahnen zu fahren, aber der Inspektor legte seit einigen Jahren keinen besonderen Wert mehr auf die "Gemeinschaft" dort.
Wie üblich hatte er den Polizeifunk aktiviert - ein Polizist war nie wirklich außer Dienst - und ließ die Meldungen leise im Hintergrund laufen, während er die Sendersuche im Radio so eingestellt hatte, dass nur Enkas gespielt wurden. Toritaka hatte eine Schwäche für den schwermütigen, altmodisch anmutenden japanischen Schlager, die er im Gegensatz zu seinen sonstigen Ansichten tief in sich verborgen hielt und die ihm selbst ein wenig peinlich war, aber das hinderte ihn nicht daran, sie in seinen privaten Momenten vollkommen auszuleben.
Er war eben dabei, auf die Zubringerstraße in Richtung Vorstadt abzubiegen, als eine Meldung über den Polizeifunk seine Aufmerksamkeit auf sich zog:
"Sechs von K-Zweifünfsieben, wir haben einen Anruf aus PQ C-Dreizehn. Ruhestörung mit Verdacht auf Gewalttätigkeit. Kommen."
Toritaka schaltete das Radio ab und mit der selben Bewegung die Freisprechanlage ein. "K-Zweifünfsieben, hier Sechs-dreiundachtzig", meldete er sich mit der Nummer seines Wagens - Dezernat sechs war seine Abteilung, die Öffentliche Sicherheit, und der Ruf kam von einer K-Nummer, also einer der Koban-Stationen. "Ich bin gerade auf Höhe B-Elf auf der Schnellstraße und kann in etwa vier Minuten bei ihnen in C-Dreizehn sein. Kommen."
"Sechs-dreiundachtzig, verstanden", kam die Antwort. "Jemand hat sich beschwert, dass in einem Parkhaus eine Autoalarmanlage losgegangen ist und will direkt vorher einen Schrei und ein lautes Krachen gehört haben. Verdacht auf bandenmäßigen Vandalismus, Verstärkung von Vier ist unterwegs. Ende."
Der Inspektor warf einen kurzen Blick auf das Navigationssystem in seinem Wagen, auch wenn das kaum notwendig gewesen wäre. Im Planquadrat C-13 gab es nur ein Parkhaus: das große elfstöckige, welches zum nahen Century Tower gehörte. Es lag im Stadtteil Bunkyo - ein seriöses Geschäftsviertel - was bedeutete, die Autos dort waren allesamt ausgesucht teuer und edel, weshalb die Parkhäuser gut von privaten Sicherheitsdiensten bewacht wurden und gewöhnlich keine polizeiliche Hilfe benötigten. Allerdings... bandenmäßger Vandalismus, das konnte bedeuten, dass eine der gefährlicheren Straßengangs unterwegs war, und die hatten durchaus die Mannstärke und die Logistik, um sich mit ein paar Mann Sicherheitsdienst anzulegen. Gegenüber der Polizei waren sie allerdings oft etwas vorsichtiger, was daran lag, dass bei einer Notlage von Polizeibeamten innerhalb von zehn Minuten überall in Tokyo ein Sondereinsatzkommando eingreifen konnte. Niemand wollte ein Sondereinsatzkommando am Hals haben.
Toritaka ließ die Seitenscheibe seines Autos herunter, zog das Blaulicht aus der Mittelkonsole seines Wagens hervor, schaltete es ein und pflanzte es aufs Dach, während er in Richtung des gemeldeten Notrufs fuhr. Wenn Verstärkung vom Dezernat 4 angefordert worden war, der Streifenpolizei, die auch die Kobans besetzte, dann würden die wahrscheinlich erst in etwa zehn Minuten auftauchen, wenn sich zwei oder drei Wagen gesammelt hatten. Ganz alleine am Ort eines vermuteten Gangverbrechens aufzutauchen, wäre eine schlechte Idee gewesen, weshalb der Inspektor schon einen Block früher als nötig abbog und den Koban ansteuerte, von dem der Funkruf gekommen war.
Er hielt vor dem kleinen Häuschen und ließ die Seitenscheibe herunter. "Einsteigen", sagte er zum ersten der beiden Polizisten, der ihm entgegenkam, wobei er ihm seinen Ausweis mit der Dienstmarke des Inspektors entgegenhielt. Der Mann, ein hagerer, dürrer Seniorpolizist, salutierte kurz, ehe er hastig die Tür aufriss und in den Honda sprang. Toritaka stieg sofort wieder aufs Gas, und bis sein Beifahrer sich angeschnallt hatte, war er auch schon auf dem halben Weg zum Parkhaus unterwegs.
"Iburo Tomoki", stellte der Polizist sich vor. "Bei mir ging der Notruf ein."
"Toritaka