Niobe. Markus Haack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Haack
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738089721
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vorbei. Heute waren die Bewohner von Terranova vor allem dem Gegenwärtigen zugewandt und suchten ihr Glück in den Dingen und Vergnügungen des Hier und Jetzt. Doch auch das war ihnen nur so lange möglich, wie die Not, die allerorten um sich zu greifen schien, sie noch nicht erreicht hatte.

      Niobe fuhr oft mit der Gondel zum großen Kreuz. Das große Kreuz war der Verkehrsknotenpunkt im Distrikt Tsingtao. Dort starteten die Expresslinien, die den gesamten Planeten umspannten und die entferntesten Gegenden in nur wenigen Stunden erreichbar machten. Von dort aus hob auch einmal am Tag ein lautloses, gläsernes Shuttle ab, das wie ein Aufzug zuerst zu Tetrathlon, der bewohnten Außenstation von Terranova im All, und dann zu den spärlich besiedelten Kolonien auf dem Mond und dem Mars glitt. Diese überwiegend wenig einträglichen Kolonien waren die Zeugnisse eines Wettlaufs der Xian, der Antracis und einiger anderer Clans um die Vorherrschaft im All. Einmal wöchentlich startete von hier aus auch ein kleineres Shuttle der Xian, das eine Forschungsstation anflog, zu der nur Befugte reisen durften.

      Niobe saß gerne auf einer Bank auf dem Platz vor dem großen Gebäude, das ihr mit seiner avantgardistisch anmutenden Architektur wie ein Objekt aus einer fernen Welt vorkam. Sie selbst war noch nie mit einer der Expresslinien gefahren und sah immer wieder mit Staunen, wie der Platz sich leerte, wenn eine Großraumgondel einfuhr und die Menschen von den Vergnügungen, die der Platz bot, abließen und hastig das Gebäude betraten. Mit noch größerem Staunen sah sie zu, wie der Platz sich kurz darauf wieder füllte mit Menschen aller Couleur, die von überall her kamen. Gerne hätte sie mehr erfahren über ihre Beweggründe und über die Orte, von denen sie kamen.

      An einem Tag, als sie wieder einmal am großen Kreuz saß, sah sie von ihrer Bank auf und bemerkte eine Werbetafel, die vor ihr über den Platz schwebte. Früher hatte es das kaum gegeben, aber jetzt war jeder öffentliche Platz überfrachtet davon. Niobe las den Schriftzug „Wir greifen nach den Sternen“, der über einem Raumschiff prangte, neben dem die Raumstation Tetrathlon, die als Maßstab abgebildet war, wie ein Staubkorn anmutete.

      Für gewöhnlich ignorierte Niobe solche Werbetafeln. Diesmal suchte sie aber im Menü ihres Neuroimplantats die Funktion, mit der sie eine Verbindung zu der Tafel und den Informationen herstellen konnte, die sich darin befanden. Vor ihren Augen spannte sich ein großes Feld mit bewegten Bildern auf und sie hörte eine Stimme, die vom Aufbruch zu einer Galaxie kündete, in der kurz zuvor ein neuer Planet entdeckt worden war. Nicht nur sollte es sich um einen Planeten mit einem großen Reichtum an Rohstoffen handeln, sondern er sollte auch noch bewohnbar sein und ein herrlich mildes Klima haben. Die Worte waren so gewählt, dass jeder Zweifel an der Realisierbarkeit eines so tollkühnen Kolonialisierungsprojekts lächerlich erscheinen sollte. Eine Vorhut der Menschheit sollte aufbrechen und mit ihrer Großtat den Reichtum und das Wohl aller Menschen auf Terranova vermehren. Niobe ahnte, worum es tatsächlich ging: Um Rohstoffe, Macht und noch mehr Geld für die Xian, die federführend hinter dem Projekt standen. Mit diesem Coup würden sie den Wettlauf gegen die anderen Clans für sich entscheiden. Niobe erkannte aber auch, dass die Xian mit ihren Plänen an den innersten Instinkten des Menschen rührten, zunächst für den eigenen Clan, dann für den eigenen Distrikt und letztendlich für die gesamte Menschheit den Lebensraum verbessern und vergrößern zu wollen. Bestimmt, so erschrak Niobe, verfehlte diese Vorstellung auch bei Lao nicht ihre Wirkung.

      Niobe hatte Angst bei der Vorstellung, dass die Dinge auf Terranova sich weiter verschlechtern würden. In der Schulzeit hatte sie noch in den knappen Unterweisungen über die Geschichte von Terranova gelernt, dass die Gier nach immer mehr und der unbedingte Fortschrittsglaube längst überkommene Gedanken waren. Ihre Überwindung hatten erst Frieden und die greifbare Realität eines Wohlstands für die meisten Menschen möglich gemacht. Gleichzeitig empfand Niobe in einem Winkel ihres Geistes auch eine Faszination daran, was der Mensch vollbringen kann. Unter ganz anderen Vorzeichen hätte sie dem Vorhaben, in die Tiefen des Alls vorzudringen, etwas abgewinnen können. Sie spürte durchaus eine Neugierde, fremdes Leben und was es dort draußen alles geben mochte, zu sehen und selbst untersuchen zu können. Aber, so war sie sich sicher, war dies alles andere als eine Forschungsmission zum Wohle aller.

      Die Werbetafel enthielt auch eine Ausschreibung, in der nach verschiedensten Mitarbeitern für das Projekt gesucht wurde. In der Ank-Climat, der größten Wüste der Welt und damit einem der wenigen kaum besiedelten Gebiete, war die Sternenstadt bereits im Bau. Dort sollten die bislang größten wissenschaftlichen und technischen Anstrengungen der Menschheit unternommen werden, um das Projekt zum Erfolg zu führen, zum Erfolg für die Xian. Unter den Gesuchen waren auch solche für Raumfahrttechniker, die sich bei der Entwicklung neuer Triebwerkstechnik und neuer Materialien für die Hülle des Schiffes einsetzen sollten. Lao, so fürchtete Niobe, würde also mit seinem guten Abschluss bestimmt dort unterkommen können, wenn er wirklich so dumm wäre, sich dafür zu bewerben.

      Niobe sprang sofort auf und eilte heimwärts. Sie konnte nicht darauf vertrauen, dass Lao von all dem nichts mitbekäme. Sie musste handeln und ihm vorauseilend sicherstellen, dass er nicht seinem Traum alles andere opfern würde. Ihm würde eine Verbannung aus dem Clan drohen, ließe er sich mit dem Dämon ein, der in der Sicht der Lingdaos von ihrer Welt besitzergreifen wollte. Die Lingdaos waren immer Verfechter eines unabhängigen Terranova gewesen, dessen politische Organe auf dem Boden der Werte handelten. Wäre es nach ihrem Vater Caius gegangen, dann wäre kein Clan jemals so reich und so mächtig geworden wie es die Xian und die Antracis heute waren. Caius würde seinen Sohn nicht verstoßen, aber er würde sich dem Votum des Clanrates beugen müssen. Aber noch war nichts geschehen.

      Lao auf der Suche nach sich selbst

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 6. Monat

      Lao lehnte an der Bar auf dem Dach des runden Gebäudes mit seinen vielen Erkern, hängenden Gärten und Terrassen. Er sah über die Brüstung des Daches hinunter zu den benachbarten, flacheren Bauten, von denen die meisten mehrere Habitate beherbergten, in denen die Clans Tsingtaos wohnten. Er sah auch die kuppelförmigen Gebäude, in denen die Menschen ihrer täglichen Arbeit nachgingen, sofern sie noch eine hatten.

      Früher war der Wohlstand allgegenwärtig gewesen. Davon zeugten noch die weitläufigen Parkanlagen und die Verzierungen an vielen Bauten. Und doch hatte Lao beim Blick über die Stadt schon immer gespürt, wie privilegiert er war, als Lingdao geboren worden zu sein. Alles unter seinen Füßen gehörte seinem Clan. In fünf Ebenen trachtete jeder danach, seinen nächsten und so auch dem gesamten Clan dienen zu können. Dazu zählten auch sein Vater Caius und seine Mutter Ailan, die beide hohe Ämter bekleideten. Trotzdem waren sie alle unbedeutend und arm, verglichen mit den Xian. In jeder größeren Agglomeration des Ostens hatten die Xian einen Prunkbau errichtet, der alles andere überragte.

      Das schmälerte nicht den Stolz, den Lao gegenüber seinen Eltern empfand. Laos Mutter Ailan war Richterin am Kommunalgericht des Distrikts und sein Vater überstand als unabhängiger Berater des Hohen Rates im Rang allen Mitgliedern seines Clans.

      Während Lao seinen Blick wandern ließ, sah er bald nichts mehr von dem, was um ihn herum geschah, so sehr ergriff ihn eine Unruhe. Er war ganz in sich gekehrt und überlegte, wie so oft in diesen Tagen, wo sein Platz im Habitat und in der Welt sein könnte.

      Zur Politik taugte er nicht. Das wusste er schon früh, weil er als Kind zuerst lieber mit physikalischen Baukästen experimentiert hatte und dann als Jugendlicher aus Einzelteilen einen Jahrhunderte alten, mit Wasserstoff betriebenen Hydrokopter wieder lauffähig gemacht hatte. Damit hatte er, den Zorn des Vaters in Kauf nehmend, im Luftraum von Terranova einige verbotene Pirouetten gedreht. Lao war ein Tüftler und liebte nichts so sehr, wie mit seinem besten Freund und späteren Kommilitonen Jun Chou an technischen Geräten zu basteln oder Programme für sein Implantat zu schreiben. Mit solchen Programmen konnte er frei durch das virtuelle Weltall fliegen, wenn er nur seine Augen schloss. Jun hatte von Anfang an mit ihm zusammen die Akademie besucht und teilte viele seiner Interessen. Lao bewunderte Jun für sein mathematisches Genie und sein absolutes Gedächtnis, für das er sein Implantat gar nicht zu bemühen brauchte. Jun hingegen bewunderte Lao für seine Unerschrockenheit und seinen Mut. Manchmal schlug diese Bewunderung auch in Furcht um, dass Lao zu weit gehen könnte. Im Studium der Antriebstechnik ergänzten sich beide perfekt, indem Lao