Shit happens eben doch. Doch ich bin nicht wegen ihm in meinem selbst gewählten Exil. Das gönne ich ihm und seiner Sozius nicht. Ich bin hier, weil ich eine Auserwählte bin. Zuerst eine weltgewandte Begleiterin, da habe ich in meiner Mappe den Hügel als Skizze des Künstlers kennen gelernt. Dann habe ich auf der Wiese den Hügel in der Realität gesehen. Mich in ihn verliebt. Ganz nah wollte ich diesem Hügel sein. Der Künstler fand es eine Woche irritierend, dann schaute er ernst, nickte und ließ mich einziehen.
Aber ich kann doch raus
23. April | »Warum«, werden Sie fragen, »warum zieht denn der Künstler nicht selbst ein?«.
»Weil«, werde ich Ihnen antworten, »weil mir der Künstler von außen Botschaften geben will. Auf die ich reagieren soll oder nicht.«
Interessanterweise fragen Sie mich nicht, warum es da überhaupt etwas unter dem Erdhügel gibt. Ich habe den Künstler davon überzeugt, mich zu retten. Wenn ich eins kann, dann ist es reden und überzeugen. Er glaubte mir, dass ich diese Rettungsinsel jetzt brauche. 100 Jahre nach dem Untergang der Titanic wurde immerhin eine Seele nachträglich gerettet. In Kassel.
»Hey, hey« werden Sie fragen, »wie schlimm ist das denn. Sie können da nicht raus? Da kriegen Sie doch Platzangst.«
Aber ich kann doch raus. Unter der Erde ist ein kleiner Gang entstanden, über den ich alle wichtigen Dinge geliefert bekomme. Dieser Tunnel ist so groß, dass ich da auch durchpasse. Wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, verschwinde ich da raus und kehre über den Gang später wieder in mein Versteck zurück.
Nur: Im Moment will ich gar nicht raus! Ich bin mir selbst genug. Stellen Sie sich doch mal folgendes vor: Alle Gescheiterten, alle im Leben verletzten, hätten so eine Erdhöhle, in die sie sich erstmal zurückziehen könnten. Über das Leben nachdenken, vollverpflegt. In Ruhe gelassen von allen. Keine Zeitung, kein Fernsehen, kein bescheuertes Facebook.
Die Kommunikation mit Isabelle Hüter klappt inzwischen sehr gut über einen »toten Briefkasten«, wie er aus Mafia-Filmen bekannt ist. In den ersten Wochen schreibt mir Isabelle Hüter einmal pro Woche. Wir verabreden einen Ablageort ihrer Texte in der Karlsaue, an dem auch ich Nachrichten hinterlassen kann. So sind wir zumindest in einer Art Fern-Dialog.
Meine Rettungsinsel
2. Mai | Nur ab und zu die Stimmen von Besuchern, die über den Erdhügel rätseln und Botschaften da lassen.
»Was'n das?«
»Kunst oder so.«
»Sieht ja aus wie eine Mini-Insel.«
Bravo, mein Süßer: Von weitem sieht mein Hügel wie die verkleinerte Version einer Insel aus. Nicht schlecht. Eben eine Rettungsinsel.
Am Anfang ist der Erdhügel noch wenig bepflanzt, die ersten Pflanzen und Gemüse sind eingesät.
Sabbatical
7. Mai | Der Hügel ist meine Rettung aus dem früheren Business-Leben. In meinem alten Cyberspace war ich entweder ganz drin oder ganz draußen. In meinem Erdhügel bin ich ganz drin. Ohne ein Draußen. Schreibe mein Leben auf. So wie jetzt gerade.
Am 18. Dezember habe ich meinen Vorstandskollegen verkündet, dass ich ein Sabbatical brauche. Klug positioniert in der Tagesordnung nach der Boni-Zuteilung. Ich sah zustimmende Gesten, nachdem ich über Burnout-Prophylaxe und Down-Shifting gesprochen hatte. Alle waren zufrieden. Wann hätten meine Kollegen je eine bessere Chance, in den zwölf Monaten meiner Abwesenheit einen Nachfolger in die eigenen Reihen zu lotsen und mich nach meiner Rückkehr geräuschlos abfinden zu können? Ich spreche hier nicht von einer Nachfolgerin, denn die Herren wollen gerne wieder unter sich sein.
Auf dem Fahrrad in den Sonnenuntergang
10. Mai | Ich verließ damals die Etage mit unendlichen Glückgefühlen. Ich nahm die Treppe, die Mitarbeiter auf den anderen Etagen staunten.
Mich hatte noch niemand
1. so fröhlich,
2. so zu Fuß,
3. so extrem langsam gehend gesehen.
Ich drückte Marcello, dem Pförtner, die Hand! Er ließ sie erst nicht los, so erstaunt war er. »Auf Wiedersehen, Frau Hüter. Bis morgen.«
»Bis morgen in zwölf Monaten« dachte ich zu mir, »oder vielleicht nie mehr.«
Mein Chauffeur hielt mir die Tür auf, ich lachte, schüttelte den Kopf und zeigte auf den Kofferraum. Er verstand sofort, holte das Faltrad raus, klappte es mir auf, ich radelte in den Sonnenuntergang. So gefühlt meine ich.
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Jumbo Guesthouse: Ich hoffe, dass ich Dich, Frau Hüter persönlich kennen lernen werde, du machst mich neugierig auf Dich!!!!
Der immerwährende Kampf gegen den Zynismus der Welt
14. Mai | Meine Pläne waren vollkommen klar, denn ich hatte kurze Zeit vorher im Internet den Aufruf gelesen: Wir möchten Personen dazu aufrufen, sich als Begleiterinnen und Begleiter zu bewerben. Sie werden unsere »Worldly Companions«, weltgewandte Begleiterinnen und Begleiter, und erhalten ein spezielles Training für diese Aufgabe.
Nach einem Telefoninterview und einem ganzen Tag Workshop haben sie mich genommen. So eine Quotenfrau hatte ihnen wohl noch gefehlt. Oder lag es an meinen Antworten?
Frage 1: Was, glauben Sie, macht Sie aus?
Antwort 1: Der immerwährende Kampf gegen den Zynismus der Welt. Oder anders gesagt: Ich war in der Konzernleitung immer dafür, Recycling-Toilettenpapier zu bestellen. Wir sprechen wirklich über so was. Gibt es übrigens auch 5-lagig.
Frage 2: Wenn Sie an Kunst denken, an was denken Sie?
Antwort 2: Kunst mir mal fünf Euro leihe? Oder: Eine Wolf-Vostell-Installation aus BMW-Cabrios.
Frage 3: Was ist Ihr Traum von einer besseren Welt?
Antwort 3: Jeder Mensch ist ein Künstler. Let's talk about Beuys. Oh yeah, Beuys now. Anders gesagt: Ich glaube, ich bin Teil eines Kunstwerkes. Ich würde gerne herausfinden, von welchem.
Wir bekamen eine dicke Mappe. Sollten uns einige Kunstwerke heraussuchen. Sie ahnen es: Ich wählte den Hügel. Fand es also heraus, Antwort 3 meine ich.
Bei dieser documenta ist alles anders: Erstmals werden so genannte »Worldly Companions«, also weltgewandte Begleiter gesucht, die sich mit der dOCUMENTA (13) auseinandersetzen und später auch über die Ausstellung führen wollen. Diese Führungen werden als »dTours«