Horst Fesseler
Das Böse wartet schon
Roman
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Inhaltsverzeichnis
KAPITEL I
Der Tod ist nur ein Erwachen aus der Leblosigkeit
Dünne, weißgraue Nebelschwaden kündeten an diesem milden frühmorgendlichen Septembertag von dem bevorstehenden Herbst, der unaufhaltsam näher rückte. Der Spätsommer hatte sich in den vergangenen Wochen noch einmal von seiner wunderschönen und sonnigen Seite gezeigt. Die Temperaturen waren teilweise bis auf 25 Grad angestiegen, als wollten sie den Sommer nicht weichen lassen. Aber durch die stetig kürzer werdenden Tage wurde man sich der zu Ende gehenden warmen Jahreszeit deutlich bewusst. Ein leichter Wind blies die ersten verwelkten Blätter von den Ästen der Bäume und Sträucher.
Matt und mit blassem Schein versuchte die gerade aufgehende Sonne den letzten Dunst des feuchten Frühnebels zu vertreiben, um noch einmal mit voller Energie ihre ungebrochene Kraft und Stärke zu demonstrieren. Das Zwitschern vereinzelter Vögel erinnerte an eine harmonische und wohltuende Ausgewogenheit. Es machte Spaß, diesen Tag zu genießen.
Regungslos lag Heiko Strewe auf dem mit einem weißen Laken überzogenen Bett in einem verschlossenen Zimmer der Nervenklinik von Grewelsmühlen. Einsam und allein. Niemand sah nach ihm. Heiko hielt die Augen geschlossen, schlief tief und fest, kaum spürbar war sein Atem. Auch die schon bald durch das halb geöffnete Fenster hereinfallenden Strahlen der hinter den flachen Hügeln am Horizont aufgehenden, mittlerweile rotgelb leuchtenden Sonne vermochten nicht ihn zu wecken.
Doch dann, nach einer Weile, entwich plötzlich etwas aus Heikos Leib, unsichtbar für jedes Auge, und schwebte lautlos durch den kleinen sterilen Raum. Es war seine Seele, die gerade den leblos gewordenen Körper verließ. Heiko Strewe fühlte sich erleichtert und frei, glücklich und zutiefst zufrieden, erlöst von allen Sorgen und Problemen, die ihn in letzter Zeit so sehr bedrückt hatten.
Weit unter sich sah er einen leeren und starren Körper auf dem Bett liegen, friedlich, die Augen geschlossen haltend. Heiko schaute genauer hin. Es war sein eigener! Was, um alles in der Welt, war geschehen? In welcher Lage befand sich Heiko nur? So ein Gefühl hatte er noch nie empfunden. Heiko wollte etwas sagen, doch kein Wort kam über seine ausgetrockneten Lippen, sosehr er sich auch anstrengte. Langsam schwebte er nach unten und versuchte, den schlafenden Leib zu berühren, tippte mit den Fingern danach. Eine unsichtbare Wand trennte ihn davon.
Heiko verspürte keinerlei Furcht oder Panik. Ganz im Gegenteil. Es ist ja nur ein Traum, ein sehr eigenartiger, jedoch auch ein sehr schöner und angenehmer Traum, überlegte er. Ein Traum vom Fliegen, wie er ihn schon oft im Leben hatte. Schade, bald würde er daraus erwachen. Dann würde alles wieder ganz normal sein, wie sonst auch, grübelte Heiko.
Aber es war kein Traum, es gab auch kein Erwachen daraus. Heiko war tot! Jetzt, wo er seine sterbliche Hülle auf dem Bett liegen sah, wurde ihm dies definitiv bewusst. Er akzeptierte es. Ihm war untrüglich klar, dass damit alle Verbindungen zu jenen, denen er sich bisher so verbunden gefühlt hatte, endgültig und unwiederbringlich zerbrochen waren, dass es keinen Kontakt zu seinem bisherigen Leben geben würde, und eine tiefe, unüberwindliche Kluft dazwischen liegen würde.
Aber war es tatsächlich so? Sollte er aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen worden sein, war jetzt mit einem Mal alles vorbei? War er von nun an getrennt von der vertrauten Wirklichkeit? Es gab doch noch so viel zu erledigen. Das alles war allerdings ab diesem Augenblick ohne Bedeutung, es zählte überhaupt nicht mehr. Bevor sich Heiko weitere Gedanken darüber machen konnte, fühlte er ganz deutlich, wie sein Geist sich von den Lebenden und ihrer realen Welt distanzierte. Er war keiner mehr von ihnen, gehörte nicht mehr dazu.
Wieder schaute er auf seinen leblosen Körper herab. Ein wenig tat er ihm leid. Wenn doch jetzt nur irgendjemand ins Zimmer käme. Ein Krankenpfleger, der Arzt oder Carmen, seine geliebte Frau. Wo steckten sie nur? Sonst hatten sie doch immer nach ihm geschaut. Bald musste Werner, sein Pfleger, das Frühstück bringen. Zeit dafür wurde es ja. Werner würde sofort feststellen, dass er tot war. Dann könnte man ihn vielleicht zurückholen zu den Lebenden. Noch schwebte sein Geist ja durch diesen Raum, noch war es nicht zu spät, ihm wenigstens die Gelegenheit zu geben, sich für immer von seinen Lieben zu verabschieden. Heiko sank näher zu seinem Körper. Er fühlte die Wärme, die von ihm ausstrahlte. Und die war gleichbedeutend mit Leben.
Doch er konnte einfach nicht zurück in seinen reglos daliegenden Leib. Eine unbekannte Macht hielt ihn davon ab, eine unsichtbare Wand war dazwischen. Sie verschloss mit undurchdringlichen Strahlen den Weg zurück in das Reich der Lebenden. Nur ein Mensch könnte – als Medium dienend – diese Tür wieder öffnen. Viel Zeit blieb also nicht mehr.
Ein heißer Strahl durchzuckte Heiko, der den für andere unsichtbaren, dünnen, glitzernden Silberfaden zwischen seinem Geist, seiner Seele und seinem Körper endgültig zertrennte. Nun wusste er, dass die Verbindung unabänderlich zerrissen war und es keinen Weg mehr zu den Lebenden gab.
Heiko versuchte sich zu orientieren. Er musste weg von hier, weg von diesem Ort der Kälte und des Unbehagens. Das fühlte er jetzt allzu deutlich. Hier gehörte er nicht hin. Eine innere Eingebung sagte ihm, dass die alte und vertraute Welt um ihn herum nicht für ihn geschaffen und bestimmt war.
Da kam er auch schon: Werner, pfeifend und frohgelaunt wie immer. Er stellte das Tablett mit dem Frühstück auf den Tisch neben dem Fenster, zog die Gardine zurück, ließ die Sonnenstrahlen voll herein. Werner sagte irgendetwas zu Heiko. Er hörte seine vertraute Stimme, verstand aber nicht die Worte. Sie bedeuteten ihm auch nichts. Dann sah Heiko, wie der Pfleger seinen leblosen Körper rüttelte und anschließend aufgeregt und nach dem Arzt rufend hinausrannte. Heiko beobachtete es mit einer gelassenen Gleichgültigkeit, es berührte ihn nicht.
Ein heller Schleier legte sich jetzt um seine Seele, angefüllt von blendendem Licht, das langsam erlosch. Was blieb, war die Dunkelheit. Doch von irgendwoher kam das Funkeln eines schwachen Sterns. Dorthin wollte Heiko. Er ließ sich treiben wie eine Wolke. Durch ein enges gewundenes Rohr schwebte seine Seele dahin, hinein in einen nebelhaften Schleier, der sich allmählich lichtete und den Blick freigab. In dem Rohr hingen unzählige bunte Bilder, die wie Neon aus der Dunkelheit hervorleuchteten. Als Heiko sie genauer ansah, erkannte er in ihnen sein vergangenes Leben. Noch einmal liefen all seine Erlebnisse vor ihm ab, glückliche und traurige Momente, angefangen vom Augenblick seiner Geburt. Wenig später folgten die Schulzeit, seine erste große Liebe, das Berufsleben, die Heirat mit Carmen und all die wundervollen Jahre mit ihr gemeinsam. Heiko schaute sich all die Bilder schweigend an. Sie zählten