Schon Aristoteles reüssierte: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Und dieses „mehr“, das müssen die Kräfte sein, und davon ging auch Einstein bei seiner Kosmologie aus, verstehen Sie? Aus Einsteins Kosmologie beziehen doch die Astrophysiker ihr Weltbild und nicht aus dem Modellbaukasten der Teilchenphysiker.“
Die belehrende und brüskierende Art, mit der der Student Sparlinek seine Überlegungen vortrug, entlockten Professor Hicks ein leicht verlegenes Lächeln und bewirkte in ihm eine kleine Denkpause, bevor er darauf antworten konnte.
„Ich bin von ihrem Interesse und ihren Überlegungen sichtlich überrascht. Was Sie da vorbringen ist vollkommen richtig, und diese Überlegungen haben die Physiker seit Aristoteles auch angestellt und weiterentwickelt. Da nehmen Sie schon meine nächste Vorlesung vorweg, in der ich auf die Kräfte und auf Einsteins Kosmologie zu sprechen komme. Schon Goethe lässt seinen Faust gleich zu Beginn in seiner Studierstube aus seinem Volum vorlesen, in dem er das Neue Testament ins Deutsche übersetzte …“
Doch bevor Professor Hicks den Dichterfürst zitieren konnte, sprudelten, zu seiner Überraschung, Fausts Worte aus dem Munde des Studenten Sparlinek nur so hervor.
„Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“, zitierte der Student Sparlinek mit deklamatorischer Stimme und meinte dazu: „Da sieht er die Welt noch mit den Augen der Theologen. Doch am Ende sieht er die Welt mit den Augen der Physiker, indem er sagt: „Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!“[1]
„Bravo, das haben sie schön gesagt. Sie scheinen mir ja so eine Art Universalgenie zu sein. Heutzutage findet man unter den Studenten der naturwissenschaftlichen Fächer kaum welche, die so allgemeininteressiert sind und dann sich auch noch mit solch alter klassischer Literatur beschäftigen und sie so gut auslegen. Sie sind eigentlich genau der Typus von angehendem Wissenschaftler, den wir an unserem Institut für interdisziplinäre Forschung propagieren.“
Während der Student Sparlinek sich bei diesen Worten leicht geschmeichelt fühlte und sich im Geiste schon in Professor Hicks` Institut ein- und ausgehen sah, war Professor Hicks noch bemüht gegenüber ihm mit seiner aufdringlichen Art, Distanz zu wahren und ging noch einmal auf den Kern der Sache ein.
„Ja, ja, mit Ihrer Ansicht stehen Sie nicht alleine da. Damit befinden Sie sich mit Ihrer Argumentation in guter Gesellschaft. Doch auch Aristoteles und Goethe konnten und sollten sich irren, mein Lieber. Und selbst Einstein tat sich mit der Quantentheorie schwer.“
„Wollen Sie damit sagen, dass nur die Teilchenphysiker unfehlbar sind, so wie der Papst. Sie empfinden sich wohl alle als die Größten, Herr Professor!“
„Keineswegs, mein Lieber, Aristoteles, Goethe und Einstein waren mit diesen Ansichten ihrer Zeit voraus. Doch inzwischen hat die Wissenschaft eben Fortschritte gemacht. Wenn Sie so wollen, dann kann man sagen, dass die Quantenfeldtheorie die fortschrittlichste physikalische Theorie ist, fortschrittlicher und damit grundlegender als die Relativitätstheorie Einsteins. Mit der Quantenfeldtheorie liegt der gelungene Versuch der Verschmelzung der beiden großen Theorien der modernen Physik, der Relativitätstheorie und der
Quantentheorie zu einer einheitlichen, universalen und finalen
physikalischen Theorie, vor. Und diese führt uns auf den magischen Baukasten der Materie mit den Elementarteilchen. Um dies richtig verstehen zu können, müssen wir näher auf die historische Entwicklung des Weltbilds der modernen Physik eingehen.
Dabei gehen wir in der nächsten Vorlesung vom Weltbild der Einsteinschen Kosmologie aus, so wie er sie selbst entwickelt und gesehen hat, um diese dann anschließend durch die Brille der Quantentheorie zu betrachten.
Und das ist ein langer Weg bis dahin, der erst zu Ende des Semesters auf das letzte fehlende Bausteinchen im Gebäude der Welt, das Higgs-Teilchen, führt.
Ob Sie allerdings bis dahin durchhalten und wie viel Sie davon dann verstanden haben, das können Sie in den folgenden Klausuren zeigen“, entgegnete Professor Hicks sichtlich überrascht und leicht pikiert von der ungeniert düpierenden Art des Studenten Sparlinek, der schon bei den Kollegen in fast alle Fakultäten bekannt war, da er fast jedes Semester das Studienfach wechselte, um überall von sich Reden zu machen, ohne je zu einem Abschluss zu kommen.
Und dieser Student Sparlinek setzte zum Abschluss mit einem verschmitzten Lächeln und seiner ungeschminkten Selbstüberheblichkeit noch einen obendrauf: „Na, da freue ich mich schon jetzt drauf, auf Ihre Klausuren. Wenn die so werden, wie Ihre Vorlesung da heute, dann sehe ich dem gelassen entgegen.
Schönen Tag noch, Herr Professor.“
Da Dr. Fitzroy wieder einmal gleich nach der Vorlesung sich in sein geliebtes „Weinloch“ abgeseilt hatte, statt noch einmal mit zurück zum Institut für interdisziplinäre Forschung zu fahren, saß nun Professor Hicks alleine in seinem 38 Jahre alten abgeblassten Polo, der von unzähligen Schrammen und überspachtelten Rostflecken nur so übersät war.
So großartig und großzügig Professor Hicks in geistigen Dingen war, so kleinkariert und sparsam ging er mit materiellen Gütern um, und so genierte er sich nicht, mit diesem alten „Schrotthobel“, wie ihn Dr. Fitzroy nur nannte, solange sich dessen Räder drehen, durch Heidelbergs Straßen zu fahren, die an diesem vorfrühlingshaften Abend von bunten Treiben belebt waren. Nicht nur das aufkreischende Schreien des Getriebes beim Hochschalten mit der maroden Kupplung, sondern auch das knatternde und plärrende Geräusch des schon porösen Auspuffs seines altersschwachen Gefährts ließ so manchen Passanten aufschrecken.
Doch Professor Hicks nahm dies gar nicht zur Kenntnis. Beseelt von dem zweifellos sichtbaren Erfolg seiner heutigen Vorlesung steuerte er sein geliebtes altes Vehikel zurück zu seinem erst kürzlich gegründeten Institut für interdisziplinäre Forschung, dem sein ganzer Stolz galt.
Mit lautem Geknatter fuhr er den steilen Philosophenweg hoch, vorbei am Institut für Experimentalphysik, in dem der Kollege Stemmpfeife, der gerade mit seinen Assistenten mit dem Aufbau eines neuen Experiments beschäftigt war, ohne aus dem Fenster zu blicken meinte: „Da quält sich wieder der Polo vom Hicks den Berg hoch. Da weiß man auch nicht, wer einem mehr leid tut, das Auto oder der Fahrer.“
Einstein krümmt den Raum im Schiffsrestaurant auf dem Neckar
Professor Hicks saß an seinem Lieblingsplatz, an einem der Hecktische des Schiffsrestaurants auf dem Neckar. Die Wellen der auf dem Fluss auf- und abfahrenden Schiffe ließ das Restaurant sanft auf- und ab- und hin- und herschaukeln. Professor Hicks genoss dieses Gefühl beim Anblick der Alten Brücke, den Blick über den Fluss bis zum Schloss am Hang des Königstuhls, dessen Bäume so langsam wieder in das frische Grün des Frühlings getaucht wurden.
„Was darf`s denn sein Herr Doktor?“, fragte ihn die gepflegte und aufgeputzte Bedienung.
„Einen Tee mit Zitrone und einen warmen Apfelstrudel mit Vanilleeis und Sahne, bitte.“
Professor Hicks war es gewohnt, dass man hier jeden älteren Herrn, der sichtlich des Lesens und Schreibens kundig war, devot mit „Herr Doktor“ anredet, wobei je nach Lage der Dinge eine anerkennende wie auch abfällige Absicht dahinter steckte.
Professor Hicks schrieb wieder einmal am Manuskript seines neuesten Buches „Professor Hicks erklärt das Higgs-Teilchen“ weiter.
In konservativer Abneigung gegenüber dem elektronischen Schnickschnack, wie er die modernen Kommunikationsmittel nur nannte, schrieb er noch mit der Hand und dem Tintenfüller auf Papier, vielleicht in der tiefen Hoffnung, dass die Nachwelt noch eine Reliquie seines Schaffens in Händen halten kann.
Und so begann Professor Hicks zu Schreiben.
„Der französische Mathematiker Jules Henri Poincaré versuchte als erster sich ein mathematisch exaktes Bild von der Welt zu machen, indem er den skurrilen Zweig der Mathematik, die Topologie, begründete. Wenn Sie in einem Mathematikbuch einen Schwimmring oder einen