Mühsam schaffe ich es, die Landschaft wieder wahrzunehmen, gegenüber steht ein langes, einstöckiges gelbes Haus mit bunten Dachziegeln, ich frage mich, ob da jemand wohnt oder ob es sich um ein Lagerhaus handelt.
Schließlich erreiche ich eine vierstufige, aus großen Natursteinen gebaute Schleuse, wie der Kanal gemäß meinem Pilgerführer wohl über zweihundert Jahre alt. Auf einer kleinen steinernen Brücke überquere ich sie.
Am frühen Nachmittag treffe ich in Frómista ein. Ich bin heute entgegen meiner pessimistischen Einschätzung etwa fünfzehn Kilometer gegangen. Das hat gut geklappt. Auch zukünftig sollte ich stets nur die nächste Etappe planen, statt mir schon über den ganzen Weg bis nach Santiago Sorgen zu machen.
Als erstes steuere ich eine Apotheke an. Direkt hinter der Eingangstür steht ein ganzes Regal voll mit verschiedensten Sorten von Blasenpflastern, Fußcreme und Bandagen. Auf der anderen Seite des Raumes steht ein Aufbau mit Gesundheitslatschen: Pantoffeln, Sandaletten und Sandalen. Ich kaufe mir eine Fußbandage, Salbe, weitere Ibuprofen-Tabletten und frische auch meinen Vorrat an Blasenpflastern auf.
Nach dem Mittagessen, das ich als einziger Gast in einem kleinen Restaurant einnehme, suche ich mir ein Hotel. Als ich noch unschlüssig davor stehe, kommt plötzlich von der anderen Straßenseite eine Frau herbei gelaufen. Sie fragt, mich, ob ich hier übernachten möchte und schließt ohne eine Antwort abzuwarten auf.
Gut, dann nehme ich also dieses Hotel. Die Dame kassiert als erstes den Übernachtungspreis, zeigt mir, wo ich die Chipkarte zurückgeben soll, zeigt im Zimmer ausführlich, wie die Elektroheizung eingeschaltet wird und wo sich die Fernbedienung befindet.
Da ich keine Fragen stelle, verlässt sie den Raum. Als nächstes dusche ich und befreie meine Füße von den Pflastern und entdecke Blase Nummer sechs.
Dann spaziere ich ins Zentrum, setze mich am Platz vor der Kirche San Martín auf einen Terrassenstuhl und trinke einen entkoffeinierten Kaffee. Es sind wieder über 20 Grad. Ich strecke die Beine aus, rühre im Kaffee und strahle den rund siebzigjährigen Spanier vom Nachbartisch an, der gleich zu reden anfängt. Ich nicke hin und wieder und sage „si“ oder „Alemania“, denn durch einige Schlüsselworte wie „Santiago“ errate ich seine Fragen.
Später besichtige ich die romanische Kirche. Es gibt keine Innenbemalung aber zahlreiche Skulpturen: Tiere, Menschen und Fabelwesen. An den Säulen ranken sich Blätter und Blumen, vermischt mit Ornamenten.
Draußen scheint immer noch die Sonne. Im Ort soll es ein Museum geben, aber selbst nach längerem Suchen finde ich es nicht. Auch den Supermarkt entdecke ich erst, nachdem ich ihn das dritte Mal passiere. Er sieht von außen unscheinbar aus, keine Aufschrift, keine Reklame und die Farbe der Ladenkette scheint weiß zu sein. Eine Dose Mais, eine Dose Champignons, Baguettebrot und Käse werden heute mein Abendbrot sein.
Ich schlendere wieder zurück zum Hotel und fahre mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage zu meinem Zimmer. Das Essen, das ich dann auf meinem Bett sitzend mit einer Plastikgabel einnehme, schmeckt doch etwas fad.
Mit Thomas schreibe ich einige Male hin und her und berichte von den vielen Storchennestern. Der Fernseher zeigt nur spanische Kanäle. Gelangweilt gehe ich um 20 Uhr ins Bett.
Tag 7 - 31. März 2012: Frómista
Morgens erwache ich hungrig, packe meine Sachen und verlasse das Hotelzimmer. Als ich den Fahrstuhlkopf drücke, öffnet sich die Tür sofort. Befindet sich der Fahrstuhl immer noch oder schon wieder auf der dritten Etage? Ich habe gut geschlafen und keinen anderen Hotelgast wahrgenommen. An der Rezeption lege ich meine Zimmerchipkarte in einen kleinen Korb. Am Abend habe ich den Tresen auch nicht besetzt gesehen – war ich der einzige Gast in einem Geisterhotel? Ich finde die Vorstellung unheimlich.
Frühstück gibt es hier nicht, ich überquere die Straße, das Hotel gegenüber der Kirche scheint eines anzubieten. Am Nachbartisch sitzt eine Gruppe von zehn Franzosen in Wanderkleidung, denen ich bereits gestern in der Stadt begegnet bin. Sind es wirklich Pilger? Eine Dame hat Stiefelletten getragen, die andere eine hellgraue Handtasche dabei gehabt. Es ist geradezu absurd, den knappen Platz im Pilgerrucksack mit schicken Schuhen zu verschenken. Im Flur steht dann die Erklärung: mehrere Reisetaschen – also eine organisierte Pilgerreise mit Gepäcktransport!
Nach dem Frühstück mache ich mich auf, einen Kilometer weiter überholt mich fröhlich schwatzend die französische Gruppe. Die tragen ganz leichte Tagesrucksäcke, rechtfertige ich mein gemächlicheres Tempo.
Auf einem Brückenpfeiler liegt ein von einem Stein beschwerter Zettel. Neugierig lese ich „to Michael from Florida“, vermutlich handelt es sich bei dem Adressaten um den Amerikaner aus dem drei Etappen zurückliegenden Hontanas. Ich stelle mir vor, dass Michael und ich uns in einem der künftigen Etappenorte wieder treffen. Er wäre dann sicherlich enttäuscht, nicht von mir zu erfahren, was in dem Brief steht, falls er ihn selber übersehen hat. Das wiegt schwerer als das Briefgeheimnis!
Eine Frau schreibt, dass ihre Tochter seine Tochter in Amerika gerne besuchen würde, sie nennt ihre Emailadresse, die ich vorsichtshalber notiere.
Später komme ich an einer offenbar landwirtschaftlich genutzten Anlage vorbei. Vier große Speicher haben eine von oben zulaufende Befüllung. Die Rohre laufen in einer Pyramidenspitze zusammen, und oben auf hat ein Storch sein Nest gebaut.
Meine Gedanken wandern von den ziehenden Störchen wieder zu meiner Reise. Schon zehn Kilometer habe ich heute geschafft. Aber egal wie viel ich laufe, ich werde weder heute, noch morgen an meinem Ziel ankommen; auf absehbare Zeit werde ich es nicht erreichen. Das ist sehr seltsam. Ich habe schon einige Male auf meinem Weg daran gedacht, kann mich aber nicht an diesen Umstand gewöhnen.
Vor mir steht ein Stein mit der Aufschrift „429 km“. Zumindest ist er sehr gut ausgeschildert. Der lehmfarbene Jakobsweg ist so breit, dass ich mir unsicher bin, ob hier auch Autos fahren dürfen. Er sieht aus, als wäre er erst vor ein paar Jahren neu angelegt worden.
Gegen 14 Uhr erreiche ich Villalcázar de Sirga. Vor einer der typischen Bars mit einem grünen San-Miguel-Bier-Schild stehen Tische, mich zieht es jedoch aus der Sonne ins Kühle. Wie schon in anderen Bars dominiert ein Fernseher das Geschehen. Es läuft gerade ein Musiksender mit den Top 20 Videoclips. Zum ersten Mal seit langem höre ich Musik. Ich bestelle Tortilla de Patatas und bekomme ein Viertelstück. Eigentlich hätte ich gerne mehr gegessen, aber es reicht gegen den Hunger. Da ich vermutlich auch am Abend warm essen werde und das Essen stets fett ist, habe ich Sorgen, dass ich trotz vieler Bewegung hier eher zu- als abnehmen werde.
Nach dem Essen bleibe ich eine Dreiviertelstunde sitzen, verfolge das Musikprogramm, wonach ich meinen Weg beschwingt fortsetze. Ich schaffe ein ganzes Stück und freue mich, als es bloß noch vier Kilometer bis Carrión de los Condes sind. Gerne würde ich noch eine Pause machen, aber wo? Ich finde keinen geeigneten Pausenplatz - den Rest der Strecke wandere ich ohne Pause an einer zweispurigen, viel befahrenen Straße entlang. Aus dem Ortsnamen Carrión mache ich „carry on“ - weiter tragen. Gleich bin ich da, so motiviere ich mich.
Erst laufe ich noch durch ein Industriegebiet - möglicherweise handelt es sich bei den großen weißen fensterlosen Gebäuden wieder um Getreidespeicher. Um halb vier komme ich im Ortskern an und entscheide mich für die Herberge im Kloster Santa Clara. Ich betrete das Gebäude aus dem dreizehnten Jahrhundert und warte kurz bis der Pilger vor mir bezahlt hat. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein dunkelgekleideter Mann – ist es ein Mönch? Schließlich handelt es sich bei den Klarissinnen doch um Nonnen.
Als ich an der Reihe bin, fragt er mich, ob ich im Einzelzimmer oder im Schlafraum übernachten möchte. Ich zögere kurz, das Einbettzimmer ist verlockend, allerdings sind