Poch – poch – schneller schlugen fünfzig Kinderherzen. Mit gezückter Feder saß eine jede vor ihrem Heft.
Und nun ging's los – Exempel auf Exempel. Die Wangen der Mädel begannen vor Eifer zu glühen, die Augen zu blitzen. Jede gab sich Mühe, ihr Bestes für das Osterzeugnis zu leisten.
Nur eine, sonst die eifrigste und begabteste im Rechnen, war heute nicht recht bei der Sache. Das war die Erste der Klasse. Annemarie vermochte ihre Gedanken nicht fest auf die Aufgaben zu richten. Immer wieder entwischten sie ihr zu den Begebenheiten vor der Stunde.
Grade bei Fräulein Neudorf, der strengsten Lehrerin der Schule! Wenn es noch bei Fräulein Hering, ihrer Lieblingslehrerin gewesen wäre, die hätte wohl eher ein Auge zugedrückt.
Sah Fräulein Neudorf sie nicht strafend an, oder kam ihr das bloß so vor? Nein, ganz bestimmt, die Lehrerin machte ein furchtbar ernstes Gesicht. Wenn man nur genau wüßte, woran man wäre! Dann könnte man sich doch wenigstens nach der Stunde entschuldigen – aber diese gräßliche Ungewißheit – Herrgott, da hatte Annemarie vor lauter Überlegen und Grübeln gar nicht gehört, wie die letzte Aufgabe hieß.
War es fünf mal dreizehn oder fünf mal siebzehn gewesen? Annemarie hatte nur noch den Klang im Ohr, ihr Bewußtsein hatte die Zahl nicht aufgefaßt. Hilflos blickte sie um sich.
»Du – Margot, siebzehn oder dreizehn?« hinter dem vorgehaltenen Löschblatt ward es aufgeregt geflüstert.
Aber ehe die Freundin noch antworten konnte, stand schon Fräulein Neudorf neben der kleinen Unaufmerksamen.
»Annemarie Braun, schließe dein Heft. Wer bei der Probearbeit mit der Nachbarin in Verbindung s–teht, hat die Absicht zu täuschen. Ans–tatt dir Mühe zu geben, deinen Fehler von vorhin durch Eifer und Fleiß gut zu machen, muß ich dich jetzt noch unter Tadel schreiben. Die Erste der Klasse – ein beis–pielloser S–kandal!« Jetzt irrte sich Annemarie nicht, die Lehrerin sah sie so strafend an wie noch nie.
»Fräulein Neudorf, ich wollte Sie wirklich nicht täuschen – ich – hatte bloß die Aufgabe vergessen – wirklich!« Die blauen Kinderaugen, die sich vergeblich mühten, die Tränen zurückzuhalten, blickten voll überzeugungsvoller Ehrlichkeit zu der Zürnenden auf.
Es war etwas Merkwürdiges um Annemaries Augen. Wenn sie bettelten und flehten, dann konnte man ihr nicht mehr so richtig böse sein – diese Erfahrung hatten Mutti und Fräulein zu Hause oft gemacht.
Auch heute bewährte sich die Kraft der leuchtenden Sterne. Diese Kinderaugen vermochten nicht zu lügen, das fühlte Fräulein Neudorf. Ihre strenge Miene ward um ein weniges freundlicher.
»So magst du dich weiter an der Arbeit beteiligen. Die Aufgabe, die du durch Unaufmerksamkeit verfehlt hast, läßt du natürlich aus.«
»Und der Tadel?« Annemaries Lippen war das entschlüpft, was ihre Hauptsorge bildete. Solange sie in die Schule ging, hatte sie noch nie einen Tadel bekommen. Der erste Tadel – nein, die Schmach war zu groß! Wie würde Bruder Klaus sie damit aufziehen und foppen, und Mutti würde traurige Augen machen – ganz bestimmt.
»Der hängt natürlich von deinem künftigen Benehmen ab« – Fräulein Neudorf fuhr weiter in der Klassenarbeit fort.
Annemarie hätte sich jetzt sicherlich die allergrößte Mühe gegeben, wenn nur nicht die eine Aufgabe in ihrer Arbeit gefehlt hätte. Nun konnte sie doch auf keinen Fall mehr »sehr gut« im Rechnen bekommen. Und dann der noch immer drohende Tadel. Huschte er nicht als kleines schwarzes Teufelchen da vorn auf dem Klassenbuch herum, und schnitt ihr eine Fratze zu? Ach wo, das war doch bloß der Schatten von Fräulein Neudorfs Hand.
Aber solche Gedanken gehören nun mal nicht zu einer Probearbeit. So kam es, daß Annemarie Braun, die das große Einmaleins vor- und rückwärts, ja selbst im Schlafe nach dem Urteil von Bruder Hans konnte, diesmal drei Fehler in der Klassenarbeit hatte.
Und das Schlimmste war, daß ihre Freundinnen Margot, Ilse, Marianne und Marlene sämtlichst null Fehler geschrieben hatten. Da ist der Schmerz umso größer.
Fräulein Neudorf, welche die Arbeiten gleich in der Stunde durchsah, blickte die Erste mißbilligend an, als sie ihr das Heft zurückgab. Kein Wort sagte sie dazu. Aber dieses stumme Urteil traf die ehrgeizige Annemarie mehr als viele Worte.
Als die Schulglocke Piefkes endlich die böse Stunde beendigt hatte, sah man ein kleines Mädchen mit goldenem Haargelock, das überall aus den kurzen Zöpfchen entsprang, vorn am Katheder stehen.
Annemarie Braun bat Fräulein Neudorf um Entschuldigung. Ja, das mußte sie. Annemarie konnte es nicht ertragen, wenn jemand auf sie böse war. Und heute ganz besonders, wo das Schuldbewußtsein ihr deutlich sagte, daß es sehr ungezogen von ihr gewesen war, ihrer Lehrerin nachzuahmen. Daran hatte aber bloß Klaus schuld. Der machte auch immer seinen Lehrer nach, und das Schwesterchen nahm sich nun mal im Guten wie im Bösen ein Beispiel an den größeren Brüdern.
Ach, Gott sei Dank – Fräulein Neudorf hatte bestimmt nichts gehört. Sie sprach nur von dem unerhörten Radau und von Annemaries Unaufmerksamkeit, die bei der Ersten der Klasse doppelt tadelnswert sei. Aber als die Kleine zerknirscht Besserung gelobte, war Fräulein Neudorf gar nicht mehr streng, sondern ganz freundlich. Um ein gutes Teil erleichtert, lief Annemarie hinter ihren Freundinnen her in den Hof. Nein, nie wieder wollte sie jemand nachmachen – ganz bestimmt nicht!
Unten im Hof sprangen die Frühlingssonnenstrahlen um die Wette mit den Schulkindern umher. Annemarie, stets eine der wildesten, ging heute merkwürdig gesittet, mit Margot und Ilse untergeärmelt, unter den blattknospenden Bäumen auf und nieder. Fräulein Neudorfs Strafpredigt wirkte noch nach.
»Glaubt ihr, daß sie mir das ›lobenswert‹ in Betragen verderben wird?« Annemaries sonst so lustiges Kindergesicht sah höchst sorgenvoll in das goldene Lenzgeflimmer. »Au weh, dann ist Mutti aber böse, wer weiß, ob ich euch dann zu meinem Geburtstag am 9. April einladen darf. Und wir wollten diesmal mit Knallbonbonmützen tanzen, weil es doch mein zehnter Geburtstag ist. Hans sagt, alle Geburtstage, wo 'ne Null dranhängt, muß man besonders begehen – Großmama feiert nächstens schon ihren siebzigsten.«
»Du, das ist eklig, wenn man grade nach den Versetzungszensuren Geburtstag hat,« ließ sich Freundin Ilse ebenfalls seufzend vernehmen. Kindergesellschaft mit Knallbonbonmützen – nein, es war nicht auszudenken, wenn daraus nichts werden sollte!
»Ich finde es fein, daß Annemarie immer in den Ferien Geburtstag hat. Wir andern haben ja bloß einen halben Tag Geburtstag, weil wir vormittags in die Schule müssen.« Margot war stets eine eifrige Bewunderin von Annemarie. Sie fand alles schön, was diese hatte oder tat.
Aber ob Fräulein Neudorf nach den heutigen Erfahrungen Annemaries Betragen noch als ein lobenswertes beurteilen würde, das erschien selbst Margot bei all ihrer Bewunderung für die Freundin recht zweifelhaft.
Die nächste Stunde war Handarbeitsunterricht bei Fräulein Hering. Die Häkeltücher, die man in der achten Klasse fabrizierte, wurden zum Schluß mit roten Rändchen versehen. Nun waren sie fertig, noch ehe das Klassenjahr um war. Eine jede hatte die Arbeit fein säuberlich vor sich ausgebreitet. Aber fein säuberlich war dieselbe nicht überall ausgefallen. Fräulein Hering, die von Bank zu Bank schritt, mußte oftmals den Kopf schütteln.
»Hilde, dein Tuch sieht ja wie ein Scheuerlappen aus – ei, Elli, hast du Kohlen darin eingewickelt, daß deine Arbeit so schwarze Flecke hat? Und hier Ilses sogar mit einem Tintenfleck garniert – da waren gewiß die Hände nicht vor der Stunde gewaschen.« Ilschen Hermann wurde so rot wie die beiden Haarschleifen, die an jeder Seite über ihren Ohren baumelten. Sie war ein kleiner Schmierhammel und wurde auch zu Hause öfters deswegen gescholten.
Zuletzt kam Fräulein zu den beiden Ersten. Blütenweiß lag Margot Thielens Häkelei, in ein sauberes Tuch geschlagen, vor ihr auf dem Tisch. Margot war in allem ein peinlich ordentliches und gewissenhaftes Kind. Dies konnte man von ihrer Freundin Annemarie nun grade nicht sagen. Die ließ ihre Sachen