Stefan setzte sich auf einen aus einer Felswand hervorstehenden Stein, um sich auszuruhen. Die anderen standen gelangweilt herum, sie brauchten sich noch nicht ausruhen. Stefan holte aus seiner Hosentasche einen Schokoladenriegel heraus, doch er bot den anderen nichts davon an. Das machte er nie, wenn es um sein Essen ging.
Als er ihn aufmachte, konnte Achim die geschmolzene Schokolade hervorquellen sehen. Ihn schüttelte es, so gerne er auch mal einen Schokoriegel aß, so widerte ihn dieser Anblick an. Er drehte sich weg, um zum Dorf herunterzuschauen. Er konnte durch eine Lücke zwischen den Bäumen hindurchblicken und suchte nach dem Haus von seinen Großeltern, wo er zusammen mit seiner Mutter wohnte. Dann gab es da ganz in der Nähe noch das Haus seines Vaters, den er immer dann besuchen durfte, wenn es ihm danach war. Er hatte Vertrauen zu ihm und fühlte sich dort wohl.
Ein leises Knirschen hintern ihm versetzte ihn in Alarmbereitschaft, suchend flogen seine Augen über die Steinwand und er registrierte, dass Stefan erschrocken von seinem Sitzplatz aufgesprungen war. Den halb gegessenen Schokoriegel zerquetschte er mit seiner linken Hand, sodass eine klebrige Erdnuss auf den Boden fiel. Sein erschrockener Blick war auf den Stein gerichtet, welcher jetzt auf dem Weg lag und ein klaffendes Loch hinterlassen hatte. Er schaute ängstlich zwischen Loch und Stein hin und her, dann schüttelte er langsam den Kopf und schob sich den Rest seines Schokoriegels in den Mund.
Achims Starre löste sich und er merkte, dass auch die anderen ihrer Clique sich erschrocken umgedreht hatten. Es war aber zum Glück nichts weiter Schlimmes passiert, außer das Achims Adrenalinspiegel schlagartig in die Höhe gesprungen war. Was er jetzt allerdings in der Wand sah, ließ sein Blut noch schneller durch die Bahnen schießen. Er spürte die Aufregung, sie hatten etwas entdeckt! Besser gesagt Stefan hatte etwas entdeckt.
Kim kniete als Erste vor dem gut 20 Zentimeter großen Loch und blickte hinein. „Nur Dunkelheit“, sagte sie und schüttelte enttäuscht den Kopf. Michael reichte ihr seine kleine Taschenlampe und sie leuchtete hinein, Achim konnte sehen, wie sich ihre Augen vor Erstaunen weiteten. „Es ist eine Höhle! Vielleicht einer der verdeckten Zugänge zu den Bergstollen!“, in ihrer Stimme schwang die Aufregung über die Entdeckung mit.
Achim war sofort bei ihr und erhaschte einen kurzen Blick auf die nur schwach erleuchtete Höhle. Er spürte, wie Stefan sich auf seinen Rücken abstützte, wahrscheinlich um etwas im Loch erkennen zu können. Angeekelt dachte er an den Schokoriegel, welchen Stefan ja in seiner linken Hand gehalten hatte. Ein Schauer überlief seinen Rücken und er stellte sich vor, wie Stefan mit seiner schokoladigen Hand auf sein frisches Hemd packte. Schönen Dank auch, dachte er im Stillen und ging leicht zur Seite, um den anderen nicht die Sicht zu versperren.
Stefan drängte sich nach vorne durch und starrte angestrengt in das schummerige Licht. „Meine Höhle“ brachte er ehrfürchtig hervor, dann fing er langsam damit an, weitere Steine aus der Wand zu nehmen. Es knirschte ziemlich lauter und Achim zuckte instinktiv zusammen. Das war nicht gut, sie sollten später wiederkommen, wenn sie bessere Ausrüstung dabei hatten. Das lose Gestein an der Wand gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Stefan hör auf damit, das ist zu gefährlich! Es könnten sich Steine lösen und die Wand einstürzen. Wir brauchen bessere Ausrüstung“ diesmal fasste er Stefan auf die Schulter und zog ihn sanft zurück. Dieser schaute ihn verwirrt an. „Es ist meine Höhle und ich habe sie gefunden! Ich will sie jetzt auch als Erster erkunden.“ Achim sah die Entschlossenheit in Stefans Augen aufblitzen und schüttelte langsam den Kopf.
Bisher hatten sie doch alle auf mich gehört? Was machte Stefan da bloß? Er könnte noch zu einer Gefahr werden. Wenn uns etwas passiert, sperren sie womöglich noch alle Höhlen hier in der Umgebung und wir können nichts mehr erforschen. Außerdem könnte ich es mir nie verzeihen, wenn einem von uns etwas passieren würde. Versteht Stefan das nicht?
„Ich will aber jetzt in die Höhle hinein, wir müssen doch nur die paar Steine hier wegmachen! Zusammen schaffen wir das doch ganz schnell.“ Stefan drehte sich schon wieder zu der Höhle um und zog einen Stein nach dem anderen heraus. Sie schienen locker zu sitzen, denn es strengte den sonst eher unsportlichen Stefan nicht an, sie aus dem Beg zu zerren. Das Loch war inzwischen schon gut 50 Zentimeter breit und 35 Zentimeter hoch, doch noch konnte sich natürlich keiner von ihnen hindurchzwängen.
Achim erschreckte es, dass Stefan so besessen von der Höhle war und er schaute zum Rest seiner Clique. Auch sie schienen sichtlich erschrocken über das, was Stefan tat. Sah er denn nicht die Gefahr? Kim trat zu Achim hin und schaute ihm tief in die Augen. Ein leichter Schauer durchlief Achim und er war nicht mehr in der Lage etwas zu sagen, anstatt dessen nickte er ihr nur zu. Kim schloss zustimmend die Augen und drehte sich dann zu Stefan um.
„Hört auf Stefan, es hat doch keinen Sinn. Wir müssen eh nach Hause. Morgen kommen wir wieder und dann erforschen wir deine Höhle gemeinsam und mit der notwendigen Sicherung.“ Stefan blickte sie alle mit traurigen Augen an, aber er hatte es endlich verstanden. Achim war Kim dankbar dafür, dass sie Stefan aufgehalten hatte.
Achim hörte, wie jemand seinen Namen rief. Leise drang die Stimme zu ihm heran, welche bei ihm ein angenehmes Gefühl hervorrief – es war Kims Stimme. „Achim“ hörte er sie sagen und langsam öffnete er seine Augen wieder. Er sah seine Clique im Dämmerlicht stehen, spürte Kim neben sich und nickte langsam, um ihnen zu zeigen, dass er da war.
„Was war denn los?“, fragte Kim, doch Achim schüttelte abwehrend den Kopf. „Ach nichts“ druckste er rum „Ich habe nur an ihn gedacht.“ Er wollte den Namen bewusst nicht aussprechen – nicht dass er ihn vergessen hatte, wie konnte er! „Wen?“, flüsterte sie fragend. Doch sogleich hörte er, wie sie schlagartig Luft holte und er sah, wie sie einen strengen Blick von Markus erntete.
Markus hatte sich von ihnen am besten mit Stefan verstanden und man merkte ihm an, wie er unter dem Verlust litt. Doch was war damals geschehen? Was war in der Nacht nach ihrem Fund passiert? Keiner von ihnen wusste es genau und keiner hatte sich getraut, das Thema anzusprechen. Sie hatten zu viel Angst und gaben sich selber die Schuld an den Geschehnissen.
Denn nur ein Schutthaufen, vermischt mit Erde, erinnerte einen Tag später an die von Stefan gefundene Höhle. Aber wo war Stefan? Ihnen allen war insgeheim klar, dass er in der Höhle war, als sie einstürzte. Er war auf eigene Faust und alleine dort hereingegangen, um sie zu erforschen.
Als sie sich am frühen Nachmittag trennten, war sein letzter Satz gewesen: „Ich werde gehen und meine Höhle erforschen.“ Das war das Letzte, was sie je von ihm gehört, oder gesehen hatten. Achim wünschte sich so sehr, dass er ihn aufgehalten hätte. Er machte sich deswegen Vorwürfe und auch, weil sie Stefan nie wirklich viel Beachtung geschenkt hatten.
Sie waren auf dem Rückweg zum Dorf und Achim störte das eingetretene Schweigen nicht weiter. Keiner von den anderen sagte etwas. Wahrscheinlich merken sie, dass sich ein Streit bildet. Ich verstehe nicht, wie Stefan so unvorsichtig sein kann und warum er nicht auf mich hört. Achim merkte, wie sich der Ärger in ihm anstaute, und spürte seine verkrampften Schultern. Merken die anderen etwas? Kim bestimmt, sie geht ja direkt hinter mir, sie muss meine verkrampfte Körperhaltung bemerken.
Als der Weg sich vor ihnen gabelte, und sie kurz davor waren, sich aufzuteilen, bracht der Streit los. Achim hörte Stefans aufgeregte Stimme und zuckte leicht zusammen „du willst doch nur wieder den ganzen Ruhm für dich einstreichen.“ Fassungslos schaute Achim ihn an, „ich bin der Anführer der Gruppe. Das weißt du und es war die sicherste Entscheidung für unsere Gruppe.“ Sprach er ganz ruhig und gelassen aus. Ein kurzer Blick zu Kim verriet ihm, dass sie ihn für seine Reaktion bewunderte. Achim lächelte und unterdrückte seinen aufkommenden Zorn. Er wollte sich seinen Ärger nicht anmerken lassen und darin war er schon immer gut gewesen.
„Es ist meine Höhle