3.2.3 Lautlichkeit und Stimmlichkeit
3.3 Literarische Lesungen in der Darstellung von Fischer-Lichte
4 Wissenschaftliche Literatur zu Lesungen
5 Die Lesung als performatives Ereignis 5.1 Materialsituation
5.1.1 Ausgangssituation: Material bei Fischer-Lichte
5.1.2 Material für Lesungsbeschreibungen
5.2 Die spezifische Performativität von Lesungen
5.2.1 Die feedback-Schleife zwischen Autor und Publikum
5.2.2 Der Aspekt der Körperlichkeit in Lesungen
5.2.5 Zeitlichkeit und Dramaturgie der Lesung
6 Fazit und Anwendungsmöglichkeiten
1 Einleitung
Lesungen haben eine lange Tradition in Deutschland und stellen heute ein wichtiges Element des literarischen Lebens dar. Dies drückt sich unter anderem durch eine immer größer und vielfältiger werdende Anzahl an Veranstaltungen aus. Von Verlagen werden Lesereisen vermehrt als wirksames Marketinginstrument betrachtet, um Aufmerksamkeit für Autoren1 und Neuerscheinungen zu generieren. Darüber hinaus sind Autoren häufig auf Einnahmen aus öffentlichen Auftritten angewiesen.
Angesichts der Bedeutung von literarischen Veranstaltungen überrascht es, dass es kaum einen Diskurs über das Gelingen von Lesungen gibt. Statt Lesungen als eigene Kunstform zu verstehen, werden sie zumeist nur als Sekundärprodukt zum eigentlichen Werk, dem Buch angesehen. Die Konzeption, Durchführung und Beurteilung von Lesungen findet in der Regel ohne Rückgriff auf einen theoretischen Hintergrund statt. Dadurch wird mögliches Potenzial nicht genutzt, das die Lesung im Bereich der Literaturvermittlung besitzt. Allerdings ist auch festzustellen, dass ein literaturspezifischer bzw. aus der Literaturwissenschaft heraus entwickelter theoretischer Bezugsrahmen für die theoretische und wissenschaftliche Beschäftigung mit Lesungen nicht existiert. So fehlen schließlich Maßstäbe und Kriterien, um sich mit Fragen nach der Qualität und dem Gelingen von Lesungen als Form der Literaturvermittlung auseinanderzusetzen. Die Frage, was eine ‚gute Lesung’ ausmacht, ist daher nur schwer zu beantworten.
Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, Lesungen aus ästhetischer Perspektive zu untersuchen und die Umrisse einer theoretischen Basis ihrer Beschreibung und Beurteilung zu skizzieren. Aufgrund des erwähnten Fehlens einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Lesung, wird hierzu eine Ästhetik herangezogen, die für den Bereich der Theater- und Performancekünste gilt, von der aus aber viele Parallelen zu literarischen Veranstaltungen gezogen werden können. Bei der Ästhetik des Performativen2, wie sie Erika Fischer-Lichte in ihrer gleichnamigen Studie formuliert, handelt es sich um die umfassendste und einflussreichste Untersuchung von kulturellen Live-Ereignissen.
Im Horizont der Arbeit von Fischer-Lichte soll nachfolgend die spezifische Performativität von Lesungen beschrieben werden, mit dem Ziel, ein umfassendes Verständnis der Lesung als performatives Kunstereignis zu entwickeln. Dessen Qualitäten sollen erkannt, bewertet und verbessert werden wodurch das Potenzial von literarischen Veranstaltungen ausgeschöpft würde. Zudem können das Verständnis und die Beschreibung der Lesung als performatives Ereignis dazu beitragen, Maßstäbe für die Bewertung von Lesungen und Literaturvermittlung zu entwickeln, die auf verschiedenen Ebenen eine fundierte Diskussion ermöglichen.
Zur besseren Einordnung wird zunächst ein knapper Überblick über die Tradition der Lesung gegeben sowie über die so genannte ‚performative Wende’, die in den 1960er Jahren in fast allen kulturellen Bereichen zu beobachten war. Daraufhin wird die Ästhetik des Performativen nach Fischer-Lichte zusammengefasst und in ihren zentralen Merkmalen dargestellt. Im zweiten Teil der Arbeit wird anhand der gewonnenen Erkenntnisse die spezifische Performativität von Lesungen mittels einiger Fallbeispiele herausgearbeitet. Mit Blick auf diese Beispiele sollen konkrete Möglichkeiten für eine kreative und überlegte Inszenierung von Lesungen thematisiert werden. Ziel ist es dabei, ein Sensorium für bisher unbeachtete Parameter zu schaffen und ein Möglichkeitsspektrum aufzufächern.
1.1 Überblick: Die Tradition der literarischen Lesung in Deutschland
Hier soll ein sehr kurzer Überblick zu der Geschichte der Lesung, vor allem in Deutschland, gegeben werden, der in seiner Knappheit keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, aber dennoch für eine Einordnung der Lesung in das Gefüge des Literaturbetriebes hilfreich sein kann.
Die Geschichte von Autorenlesungen im heutigen Sinne beginnt in Deutschland ungefähr mit dem 18. Jahrhundert und der, mit der Romantik aufkommenden, Genieästhetik. Dadurch, dass Texte nun als individuelle und künstlerische Schöpfung des Autors und nicht mehr als Überlieferung galten, änderte sich der Status des Autors in der Öffentlichkeit.3 Neben der sich daraus entwickelnden Verehrung von Autoren, wurde Schriftstellerei zum Beruf und der Autor jemand, der sich auf dem Markt behaupten musste.4 Lesungen wurden beispielsweise in privaten Gesellschaften und Salons veranstaltet. Friedrich Gottlieb Klopstock führte um 1770 Lesungen nach heutigem Verständnis in Deutschland ein und verfolgte schon damals kommerzielle Interessen.5 Letzteres kam vermehrt zum Ende des 19. Jahrhunderts in Europa auf. 6 Bereits Charles Dickens ging auf professionell organisierte, sehr erfolgreiche Lesetourneen. Zwischen 1853 und 1870 absolvierte er über 450 öffentliche Lesungen in Großbritannien und den USA.7 Anfang des 20. Jahrhunderts wurden neue Formate und Inhalte ausprobiert, beispielsweise von den Dadaisten um Hugo Ball im 1916 gegründeten Cabarét Voltaire in Zürich. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Walter Höllerer etablierte Anfang der 1960er Jahren mit seiner überaus erfolgreichen internationalen Lesereihe ‚Literatur im technischen Zeitalter‘ die moderierte Lesung, die unter großem Publikumszuspruch in Berlin stattfand und live im Fernsehen übertragen wurde. Damalige Zeitungen bezeichneten die Lesungen der Reihe als „Sensation der Saison“ 8. Das literarische Leben in Deutschland wurde vielfältiger und professionalisierter; in den 1970er Jahren entstand der Begriff des ‚Literaturbetriebs‘.9
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