Die Wandlitz-Papiere. Walter K. Ludwig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walter K. Ludwig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847616740
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und dann?“

      „Ja, was war dann in der Wohnung?“

      „Da habe ich ihn überwältigt.“

      „Einfach so?“

      „Ja.“

      „Hm.“

      Holzingers Kollege sagte die ganze Zeit nichts, machte sich aber eifrig Notizen.

      „Herr Lenz ...“

      Holzinger hatte jetzt den Tonfall eines gutmütigen, geduldigen Onkels, der mit einem verstockten Kind spricht, die Hoffnung aber noch nicht ganz aufgegeben hat.

      „Herr Lenz. Nach allem, was wir wissen, handelt es sich bei dem Mann um einen Profikiller. Und zwar um einen aus der allerersten Liga. Einen, der europaweit arbeitet, vielleicht sogar weltweit.“

      „Oh! Tatsächlich?“

      „Ja, tatsächlich!“

      „Meine Güte!“

      „Und Sie haben den überwältigt, so mir nichts, dir nichts ...“

      „Ja, nun, was soll ich sagen ...“

      „Einfach so ...“

      „Tja ...“

      Holzinger war wirklich ein verflucht misstrauischer, alter Hund. Ein Spürhund.

      „Herr Lenz ...“

      Holzinger wirkte plötzlich gut gelaunt. Geradezu amüsiert.

      „Meine Frage an Sie lautet nun: Wie haben Sie das gemacht? Der Mann war immerhin bewaffnet.“

      Lenz wandt sich. Druckste herum. Faselte. Nun ja, er habe halt den Überraschungsmoment ausgenutzt. Schließlich habe der Mann nicht mit ihm gerechnet. Dann habe er einige Schläge und Tritte angewandt, die er mal in einem Film gesehen habe. Und Glück, ja, ein wenig Glück habe er sicher auch gehabt. Vermutlich ziemlich viel Glück sogar.

      „Herr Lenz, bitte! Verkaufen Sie uns nicht für dumm!“

      Also gut, nun ja, früher, da habe er mal ein wenig Kampfsport betrieben. Aber das sei wirklich schon sehr lange her. Geradezu unglaublich lange.

      „Lenz?“

      „Ja?“

      Holzinger rückte jetzt sehr nahe an Lenz heran. Seine Augen waren nun ungefähr so durchdringend wie Röntgenstrahlen.

      „Was haben Sie eigentlich gemacht, bevor Sie Bibliothekar wurden?“

      „Ich? Studiert.“

      „Aha.“

      „Ja, an der Fachhochschule Hamburg, heute heißt sie Hochschule für angewandte Wissenschaften. Ist Voraussetzung, um Diplom-Bibliothekar zu werden.“

      „Und davor? Ich meine, bevor Sie studiert haben.“

      Lenz fiel auf, dass an der Wand ein Bild schief hing. Seit wann? Das musste er unbedingt in Ordnung bringen.

      „Lenz! Davor!“

      Der gutmütige Onkel verlor langsam die Geduld. Lenz räusperte sich.

      „Nichts Besonderes. Ich war eine Weile bei der Bundeswehr.“

      Holzingers Augen verengten sich zu Schlitzen.

      „Wo? Welche Einheit?“

      Lenz stand auf und rückte das Bild gerade. Dabei sah er, dass der Rahmen an der Oberseite staubig war. Sauerei! Die Putzfrauen machten hier wohl auch nur das Nötigste.

      „Fallschirmjäger?“

      Leerten wahrscheinlich gerade mal die Papierkörbe und hielten in der übrigen Zeit lieber ein gemütliches Schwätzchen.

      „Kampfschwimmer?“

      Qualmten womöglich sogar, obwohl Rauchen in der ganzen Bibliothek streng verboten war. Lenz musste an seinen alten Lateinlehrer denken.

      „Fernspäher?“

      Raucher sind Schweine hatte der immer gesagt. Und dass die Chinesen das Volk der Zukunft seien, das hatte er auch gesagt. Während der dekadente Westen dem Untergang geweiht sei. Wie früher das Alte Rom. Sittenverfall und bankrotte Staatsfinanzen allerorten. Kluger Mann, der Lateinlehrer. Prophet.

      „KSK?“

      Lenz sah aus dem Fenster. Er schien plötzlich sehr weit weg. Nach einer Weile nickte er. Kaum merklich. Dann drehte er sich zu Holzinger um.

      „Darf ich auch mal eine Frage stellen?“

      „Nur zu“, ermutigte ihn Holzinger.

      „Warum interessiert sich eigentlich der Staatsschutz für diesen Fall?“ Jetzt war es Holzinger, der auf einmal sehr wortkarg wurde.

       * * *

      Angelika Maiwald putzte ihre Wohnung. Schrubbte den Fußboden, wischte Staub, brachte Bad und Küche auf Hochglanz. Fremde Leute waren hier gewesen, waren mit ihren Schuhen überall herum getrampelt. Jemand hatte versucht, sie umzubringen. Warum? War es ein Einbrecher? Oder ein Sittlichkeitsverbrecher? Sie hatte keine Ahnung.

      Am Abend zuvor hatte der Notarzt nicht viel für sie tun können. Eine Beule am Hinterkopf. Ein blauer Fleck am Kinn. Würgemale und ein Bluterguss am Hals. Ein paar kalte Kompressen. Ein Beruhigungsmittel. Das war alles.

      Mit dem Angreifer hatte er wesentlich mehr Arbeit gehabt.

      Der Arzt hatte ihr zu einen paar Tagen Krankenhaus geraten. Zu psychologischer Betreuung. Sie hatte abgelehnt. Sie wollte bloß Ruhe. Heute war sie zu Hause geblieben. Morgen war sie auch noch krankgeschrieben. Vielleicht würde sie für den Rest der Woche Urlaub nehmen. Sie wollte telefonieren. Sie wusste nicht, mit wem. Sie brachte ihre Wohnung zum zweiten Mal auf Vordermann. Sie polierte die Möbel und putzte die Fenster. Sie war diese Arbeiten nicht gewohnt. Sie hatte eine Putzfrau.

      Herr Müller-Lüdenscheidt beobachtete all dies mit tiefer Sorge. Merkwürde, schockierende Dinge waren geschehen. Erst war ein Mann über sein Frauchen hergefallen. Dann hatte ein anderer Mann diesen Mann verprügelt und so sein Frauchen gerettet. Dann waren viele weitere Männer in die Wohnung gekommen und hatten viel geredet. Und jetzt benahm sich sein Frauchen so, als ob es für den Deutschen Hausfrauenpreis kandidieren würde. Herrn Müller-Lüdenscheidt gefiel das alles nicht. Nein, gar nicht. Er hasste alles, was seinen geregelten Alltag durcheinanderbrachte. Es klingelte an der Wohnungstür. Holzinger und ein jüngerer Kollege.

       * * *

      Dubajew schwieg. Den ganzen Tag schon. Nichts hatten sie aus ihm herausgebracht, kein einziges Wort. So einen harten Knochen hatten sie noch nicht erlebt. So eiskalt. Durch nichts zu erschüttern. Ob das überhaupt Sinn machte? Ob der überhaupt jemals was sagte? Sie konnten den Mann ja nicht foltern. Selbst das hätte vermutlich nichts gebracht. Ob sie ihn in seine Zelle zurückbringen sollten?

      „Ich muss pinkeln.“

      Die beiden Vernehmungsbeamten schauten sich überrascht an. Dubajew hatte geredet. Zwar nicht unbedingt das, was sie hören wollten, aber immerhin: Er hatte geredet. Sie werteten das als kleinen Erfolg. Ob er langsam mürbe wurde? Wenn Hauptkommissar Holzinger sie nachher fragen würde, ob er was gesagt habe, könnte sie Ja sagen. Hähä, kleiner Scherz. Die beiden arbeiteten schon sehr lange zusammen und so brauchten sie nicht unbedingt Worte, um sich zu verständigen. Pinkeln, ja, klar. Verständlich. Schließlich saß der Mann schon den ganzen Tag hier. Sie hatten sich schon gewundert. Kein Problem. Pinkeln war sein gutes Recht. Die drei machten sich auf den Weg Richtung Toilette. Es war nicht allzu weit. Dubajews Hände waren auf den Rücken gefesselt. Außerdem trug er Fußfesseln. Das war ungewöhnlich. Normal waren allenfalls Handschellen, aber nicht über dem Rücken, sondern vorne. Dubajew fühlte sich geschmeichelt. Geehrt. Nach der Schmach vom Vortag wusste er diese Geste zu schätzen. Als ihn die Beamten zur Toilette eskortierten, zogen sie sogar ihre Waffen. Mitten im Polizeipräsidium. Das tat seiner verletzten Killerseele gut. Wenn ihn bloß seine Auftraggeber jetzt so sehen könnten!