6 Schlussbemerkungen
Offensichtlich fällt es uns schwer, von den Strukturen des fürsorglichen Zentralismus und den Illusionen der Planbarkeit Abschied zu nehmen. Die individuell immer schon zwiespältige Geborgenheit durch Unterwerfung wird nun zu einem gesellschaftlichen Risiko. Die generationenlang eingeübte Skepsis und Feindseligkeit der Individualität gegenüber macht es uns schwer, in ihr die Keimzelle von Erneuerung und Entwicklung zu sehen. So ist die Anrufung der "Gemeinschaft", wie sie immer wieder zu hören ist, in der Regel eine Fortsetzung der Vorstellung, dass das Individuelle einen gefährlichen Kern birgt und dass es Mächte geben muss, die es im Zaume halten.
In dieser Position wird auch das eigene Individuelle als "gefährlich" abqualifiziert, aber auch unter Kontrolle gebracht. Loslassenkönnen ist immer mit einem Risiko behaftet - im Offenen Unterricht, wie in der Individualisierung der Schulen. Die Vorstellung der Chaotisierung, wenn die Führung fehlt, scheint ein gutes Argument zu sein, langsam voranzugehen. Das bedeutet aber leicht, alles beim Alten zu lassen.
Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass Chaotisierung eintreten könnte. Der ist nur vorzubeugen, indem zum einen die Destruktivität und die Überholtheit des "alten" Modells erkannt werden; zum anderen kommt es darauf an, die anstehenden Entwicklungsprozesse tatsächlich individuell gestalten zu können. Bis dahin, den psychologischen Gründen nachzugehen, wie schon der Gedanke an ein Mehr an Freiheit Befürchtungen von Chaos und Übersichtlichkeit aufkommen lassen kann.
Es ist ersichtlich: Der Wandel zu einer Schule, die sich aus sich ständig erneuert, kann nur mit den Menschen und ihrer Geschichte gemacht werden, nicht über sie hinweg und an ihnen vorbei. Er setzt voraus und entwickelt Bürgersinn. Die Frage nach der "neuen" Schule wirft Fragen nach der Selbstorganisation auf, die ohne Individualität nicht entstehen kann. Sie wird erst dann umfassend zum Zuge kommen können (wie auch die hier vorgestellte Psychologie), wenn Teambildung, Bildung teilautonomer Gruppen, Selbständigkeit von Schulen, Qualitätsentwicklung und Evaluation auf der Tagesordnung stehen.
In solcher Lage erst könnte es in der Breite den Schwung geben, die Schatzkiste der individuellen Ressourcen zu öffnen. Diese Produktivkraft zu nutzen und zu entwickeln, könnte eine vornehmliche Aufgabe der Schule sein. Die Missachtung der Produktivkraft "Individualität" dagegen ist destruktiv – ein Zustand, der häufig heute noch als natürlicher Zustand von Schule akzeptiert ist.
(kleinere Korrekturen 2009)
Literatur
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WEBER-KELLERMANN, Ingeborg: Die deutsche Familie, Suhrkamp 1982
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